Was für ein Wald!
Der Nyungwe ist ein tropischer Bergregenwald an der Wasserscheide zwischen Nil und Kongo. Er ist Teil des Afrikanischen Grabenbruchs, des Albertine Rift, zwischen Albertsee, Kivusee und Taganjikasee. Auf einer Fläche von 970 Quadratkilometern wurden im Nyungwe bisher 220 Orchideenarten gefunden, sagt Eberhard Fischer - insgesamt sind es mehr als 1500 Gefäßpflanzen, die bisher dort bestimmt wurden. Wahrscheinlich aber sind es noch mehr. Denn bisher sind nur etwa zehn Prozent der Fläche mit Wegen erschlossen, so dass rund 90 Prozent des Nyungwe-Waldes noch unerforscht sind.
Uwinka
Nach dem Zwischenstopp in Butare erreihen wir am frühen Nachmittag unseres zweiten Tages in Ruanda, am 26. September 2022, den östlichen Eingang zum Nyungwe. Dorothee ruft voller Begeisterung: Was für ein Wald, was für Bäume! Von einem Kilometer zum nächsten sind die Berghänge im "Land der 1000 Hügel", wie Ruanda genannt wird, auf einmal nicht mehr besiedelt, an der Straße stehen keine Häuser mehr. Stattdessen erstreckt sich der immergrüne Regenwald endlos bis zum Horizont. Unsen ersten Halt am Straßenrand machen wir am Uwasenkoko-Sumpf, der von einem kleinen Bach durchzogen wird.
Dorothee macht mich auf einen Baum mit breiter Krone und gefiederten Blättern aufmerksam, den für dieses Gebiet charakteristischen Kosobaum (Hagenia abyssinica), auf Kinyarwanda Umugeshi genannt.
Die erste Orchidee, die ich hier sehe, ist eine alte Bekannte: Cynorkis anacamptoides hatte ich bereits vor drei Jahren auf einem Weg am Kamiranzovu-Sumpf kennengelernt. Die terrestrisch, also auf dem Boden und nicht auf Bäumen wachsende Orchidee mit ihren sich nur wenig öffnenden Blüten ist die häufigste Orchideenart im Nyungwe. Sie ist auch sonst im tropischen Afrika weit verbreitet, von Nigeria bis Simbabwe.
Nach der Ankunft im Welcome Center von Uwinka müssen wir zunächst einen Corona-Schnelltest absolvieren. Aber dann kann es losgehen, auf dem Igishigishigi Trail zur Hängebrücke mit dem Canopy Walk. Für unser erstes botanisches Ziel müssen wir nicht lange gehen, dann sehen wir Wohllebens Mahagoni, Carapa wohllebenii.
Für Peter Wohlleben und seine Familie ist das ein besonderer Moment, aber auch für Dorothee, Burkhard und Eberhard, die den Baum nach ihm benannt haben.
Die Baumriesen sind eine Welt für sich, jeder nicht nur eine Baumart, sondern auch Biotop für zahllose epiphitisch wachsende Pflanzen. Aber auch am Boden gibt es faszinierende Pflanzen. Am Wegrand steht nochmal Cynorkis anacamptoides. Dann ziehen mich vor allem die Springkräuter in ihren Bann. Ein bedeutendes Element der afrikanischen Flora, das auch im Albertine Rift gut vertreten ist, ist die artenreiche Kräutergattung Impatiens, schreiben Eberhard Fischer, Stefan Abrahamczyk, Norbert Holstein und Steven B. Janssens in einem im September 2021 veröffentlichten Beitrag über die Evolution von Impatiens im Großen Afrikanischen Grabenbruch in der Zeitschrift Taxon. Von den weltweit rund 1200 Arten der Gattung sind gut 130 in Afrika zuhause. Auf dem in Serpentinen nach unten führenden Pfad begegnen wir zuerst Impatiens burtonii, das von Kamerun bis Äthiopien weit verbreitet ist.
Eine endemische Art im Albertine Rift ist Impatiens purpuro-violacea, das 1907 auf einer Expedition von Johannes Mildbraed (1879-1954) entdeckt wurde. In der Darstellung der botanischen Ergebnisse hielt er fest: Eine durch ihre eigenartige Behaarung und den vollständig eingerollten Sporn sehr ausgezeichnete Art. Das möchte ich doch sehr bestätigen.
Dritte Spezies im Impatiens-Reigen dieses Tages ist Impatiens niamniamensis, das nicht von Insekten, sondern von Nektarvögeln bestäubt wird. Die von Kamerun bis Kenia verbreitete Pflanze erinnert in ihrem Namen an die ethnische Gruppe der Niam-Niam oder Azandeh im Kongo, deren Angehörigen Kannibalismus nachgesagt wurde. Eberhard erklärt, dass es zu dieser Pflanze aber eine neue taxonomische Entscheidung geben könnte.
Was blüht da so klein und tiefblau am Boden? Das ist die kleinste aller Lobelien, antwortet Dorothee. Das Winzige kommt auch im wissenschaftlichen Namen zum Ausdruck: Lobelia minutula.
Immer wieder schaue ich auf der Suche nach Orchideen in die Bäume hinauf. Der September sei nicht die beste Blütezeit, sagt Eberhard, der meinen Blick bemerkt. Aber dann entdecke ich auf der Hängebrücke, dem Canopy Walk, doch noch eine besondere Orchidee: An herabhängenden schmalen Blättern strecken sich zahlreiche senfgelbe Blüten von Polystachya spatella dem jetzt langsam schwächer werdenden Licht entgegen.
Bisher kam vor allem die Nikon Z 6 mit dem Makro-Objektiv 50/2.8 zum Einsatz, aber jetzt bin ich dankbar, dass mir die Z 7 II mit dem 100-400mm-Tele-Objektiv die Entfernung zur Orchidee auf dem Baum überbrückt. Weil die Brücke ständig schwankt, wähle ich eine kurze Belichtungszeit von 1/550 Sekunde, bei der Lichtempfindlichkeit muss ich bis zu ISO 2000 hochgehen. Die Blendenöffnung ist auf 5.6 beschränkt, lässt aber noch genug Licht durch.
Eine Orchidee aus einer anderen Gattung gedeiht auf einem dicken Ast. Sie treibt Knospen aus, muss aber vorerst noch unbestimmt bleiben.
Schnell bricht die Nacht ein, wir müssen zurück ins Welcome Center Uwinka. Auf dem Rückweg bricht ein Gewitterschauer über uns herein. Fast mystisch hört sich der Ruf des Turako an.
Der letzte Blick des Tages über die Nyungwe-Höhen auf den Kivusee bleibt unvergesslich.
am Disa-Hang
Am 6. Oktober sind wir dann nochmal zwischen Uwinka und dem Kamiranzovu-Sumpf unterwegs, um die terrestrische Orchidee Disa eminii zu sehen. Ihr leuchtendes Pinkrot ist schon von weitem zu sehen.
Ebenfalls am Boden wächst Satyrium crassicaule, das ich vor drei Jahren blühend gesehen hatte. Hier ist es noch am Knospen.
Der Orchideen-Blick geht im Nyungwe immer nach oben. Und so sehe ich auf einem der Urwalrdriesen auch eine nach allen Seiten austreibende Pflanze mit Blättern, die an den Spitzen auffällig gekerbt sind. Das ist das grünlich blühende Rhipidoglossum rutilum mit einem Verbreitungsgebiet von Westafrika bis Mosambik. Bei näherem Hinschauen sind auch Knospen zu erkennen.
Auf der Fahrt zum Kivusee neigt sich der Tag seinem Ende zu, und wir bekommen noch einen besonderen Primaten zu sehen, die Östliche Vollbartmeerkatze (Allochrocebus lhoesti).
Auch ein Rotducker springt am Straßenrand auf. Die kleine Antilope ernährt sich als Wiederkäuerin von Blättern, Blüten und Früchten. Der wissenschaftliche Name Cephalophus natalensis weist auf einen ursprünglichen Verbreitungsschwerpunkt in der südafrikanischen Provinz KwaZulu-Natal hin.
Gisakura
Nach dem Frühstück bei Dushumyumikiza im Peace Guest House fahren wir nach Gisakura, zum westlichen Begrüßungszentrum des Nationalparks Nyungwe. Von dort aus geht es ein paar Kilometer in die Teeplantagen hinein, bis zum Rand des Regenwalds. Eine Landarbeiterin betrachtet uns neugierig, erlaubt mir dann, dass ich ein Foto von ihr mache.
Eberhard lenkt unseren Blick am Waldrand auf einen besonderen Salbei, Brillantaisia nitens. Er demonstriert den sehr speziellen Befruchtungsmechanismus der Blüten: Wenn eine Biene sich auf der Lippe niederlässt, verengt sich die Blüte und die Bestäuberin wird gegen den Pollen gedrückt.
Sobald wir von der Teeplantage in den Regenwald eintauchen, umgibt uns hohe Luftfeuchtigkeit - der westliche Rand des Nyungwe ist deutlich feuchter als der Osten. Dorothee macht uns auf einen Hautfarn aufmerksam, der sich wie ein Teppich auf einen Baumstamm gelegt hat. Er gehört zur Gattung Hymenophyllum, die auch Pate für den Familiennamen der Hautfarngewächse stand: Hymenophyllaceae. Mit ihren Lichtreflexen und unterschiedlichen Grüntönen offenbart sich die Schönheit des Farns erst bei längerem Betrachten.
Der Weg zu den Wasserfällen von Isumo, der Waterfall Trail, lädt zur Fortsetzung der Impatiens-Studien ein. Da ist zunächst Impatiens bequaertii, ein Endemit des Albertine Rift, zuhause zwischen Uganda und Burundi. Ihrer charakteristischen Blütenform verdankt die Pflanze den populären Namen Tanzendes Mädchen.
Und dann ist da noch das mit Impatiens purpuroviolacea verwandte Impatiens ludewigii, erst 2021 von Eberhard Fischer u.a. beschrieben und benannt nach dem Kanzler der Universität Koblenz, Michael Ludewig.
Je tiefer uns der Weg zum Talgrund führt, desto häufiger begegnet uns auch Impatiens stuhlmannii mit leuchtenden Blüten.
Weitere Regenwald-Schönheiten sind die Begonien - mit je nach Abgrenzung 1800 bis 2000 Arten in Afrika, Asien und Amerika ist dies eine sehr artenreiche Gattung. Begonia meyeri-johannis hat eine recht weite Verbreitung vom Kongo bis Kenia, Tansania und Malawi. Es ist die einzige sich rankende Begonienart in Ruanda. Männliche Blüten haben vier, weibliche haben zwei bis vier Blütenblätter.
Begonia pulcherrima trägt die Schönheit schon im Namen. Die gelb blühende Pflanze ist ein Endemit aus dem Nyungwe und dem angrenzenden Regenwald in Burundi.
Wie bei vielen Begonien gibt es männliche Blüten (oben) mit etwa 20 Staubblättern und weibliche Blüten mit drei oder vier Griffeln. Die Art wurde 1992 von dem niederländischen Botaniker Marc Simon Maria Sosef beschrieben, der sich eingehend mit der aus 900 bis 1400 Arten bestehenden Gattung beschäftigt hat. Er hat festgehalten, dass die meisten Begonienarten im mehr oder weniger schattigen Unterholz tropischer Regenwälder zuhause sind und sich an diese besonderen Bedingungen angepasst haben.
Im Talgrund erreichen wir schließlich den Isumo-Wasserfall. In der feuchten Luft herrscht eine üppige Vegetation mit Farnen und zahlreichen Impatiens stuhlmannii.
Beim Aufstieg überrascht uns ein Gewitter mit reichlich Regen und einer magischen Sound-Kulisse.
In der zunehmenden Dämmerung geht der Blick nach oben, zu Ästen mit zahllosen Farnen und Orchideen, deren Umrisse sich wie Scherenschnitte vom Himmel abzeichnen.
im Jacaranda-Baum
Am 6. Oktober sind wir noch einmal am westlichen Nyungwe-Rand in der Nähe von Gisakura. Wir fahren auf kleinen Feldwegen und kommen an einer munteren Kolonie von Meerkatzen vorbei.
Am Rand einer Teeplantage gelangen wir an eine Reihe alter Jacaranda-Bäume, die mit Farnen und Orchideen bewachsen sind. Das ist Jacaranda mimosifolia, die mir Dorothee schon am Hotel in Kigali gezeigt hat. Ich mache es den Äffchen nach und steige hinauf, um die Pflanzen ganz nah anschauen zu können. In kurzer Zeit notieren wir elf verschiedene Arten, viele auch blühend. Darunter sind allein sieben Arten der Gattung Polystachya.
Besonders zahlreich blüht hier Polystachya andansoniae. Der große Blütenstand ist dicht mit zahlreichen Einzelblüten besetzt, die weißgelblich sind, mit rotbraunen, nach unten gerichteten Lippenspitzen.
Große Einzelblüten hat hingegen Polystachya fallax, eine endemische Orchidee der Region zwischen Burundi, Ruanda, Ostkongo und Westuganda. Sie blüht weiß bis gelblich, mit einem dunkelroten Gymnostemium.
An den sehr kleinen Blüten ist Polystachya aconitiflora zu erkennen, hellrosa bis rot. Auch sie ist ein Endemit der Region und ansonsten nur im östlichen Kongo und im westlichen Uganda zu finden.
Mit deutlich größeren Blüten als Polystachya aconitiflora und auch sonst klar zu unterscheiden ist Polystachya vulcanica, ein weiterer Endemit der Region. Die cremefarbenen Blüten haben pinkfarbene Akzente auf der Lippe und an der Spitze des Gymnostemiums.
Senkrecht am Baumstamm wachsen zwischen Moosen und Flechten auch Tridactyle-Arten wie Tridactyle eggelingii.
Zum Polystachya-Reigen an den Jacaranda-Bäumen gehört auch erneut Polystachya spatella, die ich jetzt näher betrachten kann als zuvor bei Uwinka.
Polystachya tridentata, ein weiterer Endemit des Albertine Rift, hat besonders große Blüten, die fein behaart sind.
Nicht mehr blühend ist Polystachya mauritiana, die weiter verbreitet ist im tropischen Afrika, von Guinea bis Äthiopien und Simbabwe. Sie hat grünlich-weiße, sehr kleine Blüten. Hier können wir die Früchte anschauen.
Gisovu
Am 5. Oktober fahren wir über staubige Schotterstraßen vom Peace Guest House in Cyangugu aus an den Nordrand des Nyungwe. Kinder spielen barfuß auf der Straße, eine Mutter stillt ihr Baby vor dem Lehmhaus. In der Nähe des Dorfs Gisovu liegt eine Station des Rwanda Development Board (RDB), auf dem Gelände einer ehemaligen Schweizer Forschungsstation. Dort sprechen Eberhard, Dorothee und Burkhard mit der Leitung des Nationalparks über gemeinsame Naturschutz- und Forschungsprojekte. In der Zwischenzeit laufe ich einen Weg in den Regenwald hinein. Hier in der Nähe liegt die von Richard Kandt entdeckte Nilquelle. Auf meinem Weg sind Dorfbewohner auf schwer beladenen Fahrrädern zum Markt unterwegs. Zuerst geht es noch an hohen Eucalyptus-Bäumen vorbei. Aber dann tauche ich in die Regenwald-Flora ein, mit epiphytischen Farnen wie das auf fast jedem Baum wachsende Pleopeltis macrocarpa oder das seltenere Asplenium theciferum.
Auch Orchideen fühlen sich hier wohl wie diese Polystachya, die noch keine Blüten ausgebildet hat:
An den Blättern zu erkennen ist Rhipidoglossum bilobatum. Die auch in Burundi, Ostkongo, Uganda und Kenia heimische Orchidee hat kräftige, fleischige Blätter an einem langen Stängel. Ihre Blüten sind ab Januar zu sehen und grünlich-weiß.
In einem anderen Baum entdecke ich Tridactyle virgula, die ich schon aus dem Garten in Butare kenne und in schönster Blüte erlebt habe. Hier sind erst Knospen ausgebildet.
Schließlich muss ich umkehren, um zur vereinbarten Zeit zurück zu sein. Auf einer Magerwiese sehe ich noch Cynorkis anacamptoides, sicherlich die häufigste terrestrische Orchidee im Nyungwe. Viel größer als die europäischen Polygala-Arten, vertraute Begleiter auf vielen Orchideen-Erkundungen, ist hier Polygala ruwenzoriensis.
Zum Schluss macht mich Eberhard noch auf Coccinia mildbraedii aufmerksam, die zu den Kürbisgewächsen gehört. Am Fruchtstand der hübschen, glockenartigen Blüte entwickeln sich zylindrische Früchte, die erst hell, zuletzt leuchtendrot sind. Die Art ist benannt nach dem Botaniker Johannes Mildbraed (1879-1954), der 1907 an der von Adolf Friedrich zu Mecklenburg geleiteten Expedition teilnahm, die auch in den Nyungwe führte. Im Bisoke-Wald sehe ich später auch die Früchte von Coccinia mildbraedii.