An Bord treffe ich Véronique aus Kanada, die drei Monate lang von Kopenhagen zum Nordkap unterwegs ist. Zusammen schlagen wir auf dem Campingplatz nördlich von Visby unsere Zelte auf und lassen an der Steinküste den Tag ausklingen.
Orchis spitzelii
Am nächsten Morgen beginnt die Gotland-Rundreise mit der Fahrt nach Lickershamn, einer kleinen Fischersiedlung an der Westküste. Bei der Vorbereitung hat mir Marco Klüber mit wertvollen Informationen geholfen. Er ist gerade mit einer Reisegruppe auf der Insel unterwegs, so dass wir uns noch zu aktuellen Funden austauschen. Schon wenige Kilometer nördlich von Visby blühen die ersten Orchis mascula im Straßengraben, eher kleine Pflanzen, aber am 28. Mai noch schön in Hochblüte. Von Lickershamn aus fahre ich weiter nach Norden in das Naturreservat Hall-Hangvar, das größte dieser geschützten Gebiete auf Gotland. Hinter dem Dorf Hall mit seiner markanten mittelalterlichen Kirche im Zentrum folge ich einem Waldweg bis zum Meer, wo in einem lockeren Wäldchen mit gedrungenen Kiefern Spitzels Knabenkraut (Orchis spitzelii) wächst. Auch sie sind fast noch in Vollblüte, jede Pflanze hat ihre individuelle Erscheinung.
Auf der Rückfahrt sehe ich am Straßenrand noch das Schwertblättrige Waldvögelein (Cephalanthera longifolia), vielleicht die häufigste Orchideenart im Norden der Insel. Das botanische Entdeckerglück wird vollkommen mit einer weiß blühenden Orchis mascula, nur das purpurne Punktmuster der Lippe ist noch erhalten. Die Vermutung, ob solche Albiflora-Formen auf Gotland vielleicht vermehrt vorkommen, wie in der westirischen Region Burren oder auf Sardinien, findet jedoch keine Bestätigung.
Zwischen Wald und Küste
Am nächsten Tag verlasse ich Lickershamn und lasse mich für ein paar Tage am Rand des kleinen Hafenstädtchens Kappelshamn nieder. Über die Siedlung Hallshuk radle ich zu einem Kiefernwald am Meer. Im Kalkgeröll zwischen Wald und Strand knospen Rotbraune Stendelwurze (Epipactis atrorubens). Und auf einer kleinen Feuchtwiese direkt am Meer blüht das Fleischfarbene Knabenkraut (Dactylorhiza incarnata) in rosa, purpurn und hellrot inmitten von rosafarbenen Mehlprimeln (Primula farinosa), gelben Spargelerbsen (Lotus maritimus) und blauem Fettkraut (Pinguicula vulgaris).
Der im Naturreservat gelegene Küstenstreifen Harudden, die nördlichste Stelle von Gotland, ist mein Ziel am 30. Mai. Auf dem Weg dorthin sehe ich das Helmknabenkraut (Orchis militaris) und die Zweiblättrige Waldhyazinthe (Platanthera bifolia). In einem Kiefernwäldchen am Meer mit vielen Preiselbeeren und dem Katzenpfötchen (Antennaria dioica) blühen vereinzelte Orchis spitzelii.
Weiter westlich komme ich in ein ausgedehntes Feuchtgebiet mit vielen Dactylorhiza incarnata.Fieberklee (Menyanthes trifoliata) und Breitblättrigem Wollgras (Eriophorum latifolium). Am Rand blüht auch das Große Zweiblatt (Neottia ovata).
Einziger Begleiter bei meinen Erkundungen ist der Rotschenkel mit seinen lauten Tjüüt-Rufen.
Blaue Lagune
Am letzten Maientag radle ich in das Naturreservat der Blauen Lagune. Auf einer in diesem Sommer schon ziemlich trockenen Feuchtwiese blühen Orchis militaris, Orchis mascula, Cephalanthera longifolia, Neottia ovata und Dactylorhiza incarnata in unterschiedlichen Farben: fleischfarben, dunkelpurpurn und einige Male auch gelb. Die Sumpf-Stendelwurz (Epipactis palustris) treibt gerade ihre Knospen aus. Dazwischen blühen der Blutrote Storchenschnabel (Geranium sanguineum) und fast allgegenwärtig die Schwalbenwurz (Vincetoxicum hirundinaria).
Die Blaue Lagune trägt ihren Namen zu Recht, das Wasser ist türkisblau und in seinem Felsenbett glasklar. Nach einer erfrischenden Pause am Rand dieser besonderen Badewanne fahre ich an der Küste entlang nach Westen, schaue mich dort in den Kieferwäldern um, an einer verträumten Küste mit verwitterten Felsformationen, Raukare genannt, und einer einsamen Fischersiedlung.
Auf der Rückfahrt nach Kappelshamn komme ich an der Kirche von Fleringe vorbei und entdecke eine schöne Orchideenwiese am Rand eines Wäldchens mit dem Fuchs'schen Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii) und einer weiß blühenden Dactylorhiza incarnata.
Der Juni beginnt mit dem Abschied von Kappelshamn. In einer Vaffelkök halte ich ein zweites Frühstück, interessiert betrachtet vom kleinen Emil - schließlich bin ich der erste Gast des Sommers, wie mir seine Eltern sagen. Vor Mittsommer ist es noch sehr ruhig auf Gotland.
Rute
Über Fleringe komme ich nach Rute - höchste Zeit, eine der vielen mittelalterlichen Kirchen näher anzuschauen. Diese wurde 1230 gebaut, mit Fresken aus dem Spätmittelalter und einem Runenstein aus dem 12. Jahrhundert. Den meisten Reiseführern ist sie keine Erwähnung wert, aber mir gefällt die besondere Aura des alten Gemäuers.