Im Wald von Anjozorobe
Unser erstes Ziel ist am 2. Februar das nordöstlich der Hauptstadt gelegene Schutzgebiet Anjozorobe-Angavo. Als wir auf einer unbefestigten Straße einen Bach überqueren, entdeckt Lova in einem Strauch einen Giraffenhalskäfer (Trachelophorus giraffa). Das endemische Insekt mit der auffallend roten Flügeldecke rollt gerade für die Eiablage das Blatt eines Strauchs aus der Familie der Schwarzmundgewächse (Melastomataceae) zusammen. Nach der Ankunft an einer Siedlung von Holzhütten geht es nur noch zu Fuß weiter, bis wir die im Bachtal gelegene Akiba Lodge erreichen.
Dort begrüßt uns ein erstes Chamäleon im Baum vor meiner Hütte, das Kurzhorn-Chamäleon (Calumma brevicorne). Außerdem treffen wir unsere örtlichen Waldführer, Essence und Zach. Die Begleitung solcher local guides ist in jedem geschützten Gebiet auf Madagaskar vorgeschrieben - und durchaus sinnvoll, weil sie die Wege und die Natur in ihrem Gebiet sehr gut kennen. Schnell stoßen wir auf die ersten epiphytischen Orchideen, die sich ohne Blüte kaum bestimmen lassen. Dann fällt mir ein Geflecht dünner grüner Zweige auf: Rhipsalis baccifera ist die einzige Kakteenart außerhalb von Amerika.
Und dann sehen wir auch eine erste blühende Orchidee! Sie gehört zur Gattung Polystachya, die ich schon in Ruanda kennengelernt habe. Sie hat kleine weiße Blüten an einem langen Blütenstand, der zusammen mit einem Laubblatt aus der schmalen Pseudobulbe wächst. Polystachya cultriformis ist die wohl häufigste Art dieser Gattung in den madagassischen Regenwäldern.
Oberonia disticha liebt altes Holz mit Moos zur Speicherung der Feuchtigkeit. Zuerst sehen wir diese Orchidee nur mit kleinen Früchten vom vergangenen Jahr, aufgereiht an einem zarten Stiel. Doch dann entdecken wir sie auch mit frischen Blüten - zahllos, winzig und zartgelb an langen, herabhängenden Blütenständen.
Oberonia ist nach dem Elfenkönig Oberon benannt - die winzig kleinen Blüten haben den englischen Botaniker John Lindley (1799-1865) an Elfen erinnert. Die Gattung umfasst etwa 270 Arten in Afrika, Südasien und Australien. Oberonia disticha ist die einzige Art der Gattung auf Madagaskar.
Ich knüpfe erste Bekanntschaft mit Aerangis citrata, einer der häufigsten Orchideen auf Madagaskar, die mich auf der Reise noch weiter begleiten wird. Das erste Angraecum, das wir sehen, hat zwar keine Blüte, ist aber mit seinen wechselständigen dicken Blättern gut zu erkennen als Angraecum compactum.
Sehr besonders sind die dichten Pflanzenteppiche von Bulbophyllum conchidioides - diese kleinen Orchideen bedecken alte Holzstämme. Die kleinen weißen Blüten sind fast transparent.
Auch ein erstes Springkraut sehen wir, mit leuchtend rosa Blüte, das ist die endemische Impatiens firmula.
Nach dem Dunkelwerden gehen wir auf eine kleine Nachtwanderung. Wir sehen den Madagaskar-Laubfrosch (Boophis madagascariensis), weitere Chamäleons, einen Maus-Maki und Stabheuschrecken.
Ein Vogelpärchen verbringt die Nacht dicht zusammengedrängt: Der Kurzschnabel-Madagaskarsänger (Xanthomixis zosterops) ist eine endemische Regenwald-Art. Die Kunst der Phytomimese, der Tarnung mit Hilfe der Angleichung an Pflanzen, zeigt ein Blattinsekt (Wandelndes Blatt) aus der Familie der Phylliidae.
Danach bekommen wir noch ein gutes Abendessen in der Akiba Lodge. In der Nacht prasselt starker Regen ununterbrochen auf das Dach meiner Hütte.
Am Morgen hat der Regen endlich aufgehört. Darüber freut sich nicht nur der endemische Madagaskar-Commodore (Precis andremiaja). Schließlich wollen wir einen ganzen Tag im Schutzgebiet Anjozorobe-Angavo verbringen. Im Bachgrund vor der Lodge wächst ein Kaffeebaum. Und auf dem Talweg sehen wir an einer feuchten Felswand Sonnentau: Drosera madagascariensis hat rundliche bis längliche Blätter mit leuchtenden Drüsenhaaren. Gleich danach macht uns Essence auf eine grün blühende Orchidee aufmerksam: Das auch in Mosambik verbreitete Angraecum calceolus wächst hier auf Felsengestein. Der Blütenstand ist reich verästelt. Die Blätter sind relativ lang, eher dunkelgrün und breit.
Auf einem Wiesenhang sehen wir die Madagaskar-Hakennasennatter (Leioheterodon madagascariensis). Sie schlängelt und züngelt sich schnell durchs Gras und richtet sich manchmal auf.
Danach gelangen wir in etwa 1300 Metern Meereshöhe in einen dichten Regenwald. Unsere ersten Entdeckungen sind epiphytische Orchideen, deren Bestimmung ohne Blüte oft schwierig ist. Wir treffen Aerangis citrata wieder, mit einem reich besetzten Blütenstand - ich zähle sechs Blüten und acht Knospen. Diese Art ist recht häufig hier. Wir sehen auch einige Pflanzen, die erst ihre Knospen entwickelt haben.
Zikaden, Frösche und Vögel hüllen mich in eine einzigartige Soundkulisse ein:
Langsam gehe ich Schritt für Schritt durch den Wald. Dominierende Baumart ist der etwa zwei Meter große Drachenblutbaum (Harungana madagascariensis) mit einem strauchartigen Wuchs. Wir sehen an einem Baum eine Orchidee mit zarten Wurzeln, die sich an den Stamm schmiegen, mit grasartigen Blättern und einer Fruchtkapsel. Das ist ein Angraecum linearifolium.
Mittags stürzt ein heftiger Regen über uns herein. Ich packe die beiden Kameras in den regendichten Seesack, der Rucksack selbst muss halt nass werden, während wir mit schnellen Schritten in die Lodge zurückkehren. Nach der Regenpause können wir die Exkursion fortsetzen und steigen hinter den Bungalows in einen Kiefernwald hinauf. Auf der Höhe angekommen wird der Wald lockerer, fast heideähnlich und überrascht uns mit einer besonderen Polystachya-Blütenpracht. Polystachya oreocharis blüht gelb-orange bis rötlich, Polystachya rosea in einem leuchtenden Rosa-Violett und Polystachya henrici in einem zarten Gelb.
Dann gelangen wir wieder in einen dichteren und feuchten Wald mit zahlreichen epiphytischen Orchideen. Viele können wir nicht bestimmen. Aber wir sehen auch wieder Angraecum linearifolium mit Früchten.
Sehr besonders sehen die kleinen Blüten von Polystachya humbertii aus - sie haben eine dreigeteilte gelbe Lippe, die aufwärts gerichtet ist, die Sepalen und Pedalen sind weiß, das Gynostemium hat eine violette Spitze. Benannt wurde die Art 1936 nach dem französischen Botaniker Henri Jean Humbert (1887-1967), der 1912 zum ersten Mal nach Madagaskar kam. Zusammen mit Joseph Marie Henry Alfred Perrier de la Bâthie (1873-1958), der Polystachya humbertii wissenschaftlich beschrieb, wirkte Humbert maßgeblich an dem Werk Flore de Madagascar et des Comores mit.
Und wir entdecken Bulbophyllum peyrotii, benannt nach dem Arzt Jean-Pierre Peyrot, der zusammen mit dem Botaniker Jean Bosser auf Orchideensuche war, welcher die Art 1965 beschrieb. Die Pflanze hat zwei kleine rundliche Blätter mit ausgeprägter Mittelkerbe, die aus einer herzförmigen, gelblichen Pseudobulbe wachsen. Der Blütenstand trägt zehn bis zwölf helle Blüten, die mit zahllosen dunkelpurpurnen Punkten übersät sind. Die Art ist hier relativ häufig, wir sehen sie aber nur einmal mit den besonderen Blüten.
Noch kleiner ist ein gerade knospendes Bulbophyllum mit einem schlanken Blatt aus der rundlichen, abgeflachten Pseudobulbe. Der lange Blütenstand trägt mehr als 20 dunkelviolette Knospen. Dies ist Bulbophyllum boiteaui. Henri Perrier de la Bâthie beschrieb die Art 1939 anhand einer Pflanze im Botanischen Museum von Antananarivo, die dessen Direktor Pierre Boiteau (1911-1980) im Regenwald gesammelt hatte.
Einen Blütentrieb treibt Bulbophyllum coriophorum aus, die kantigen Pseudobulben tragen jeweils zwei Blätter.
Andere Orchideen müssen unbestimmt bleiben, sind aber auch ohne Blüte aufregend schön. Eine Polystachya virescens treibt neben Früchten einen neuen Blütenstand mit Knospen aus. Aber das besondere Polystachya-Seminar im Wald von Anjozorobe ist noch nicht beendet: Zum Abschluss treffen wir Polystachya fusiformis mit einem verzweigten Blütenstand und kleinen grünliche Blüten.
An Gestalt und Stellung der Blätter und der relativ zur Pflanze recht großen, hier noch grünen Frucht ist Angraecum didieri zu erkennen.
Eine schöne gelbe Blüte trägt ein kleines Bulbophyllum, das eine braune Pseudobulbe mit jeweils einem kleinen Blatt hat. Alles Blättern in den Bestimmungsbüchern gibt keinen Aufschluss zu seiner Identität, so dass es vorerst namenlos bleiben muss. Wieder daheim frage ich Johan Hermans von den Londoner Kew Gardens danach. Er kennt die Pflanze auch nicht und vermutet, dass sie zur Bulbophyllum-Sektion Loxosepalum gehört.
Zum Abschluss unseres Ausflugs sitzen wir am Abend in der Akiba Lodge noch zu Bier und Limo zusammen.