lebendige Wiesen
Zehn Jahre nach einer ersten Exkursion ins Murnauer Moos will ich das größte zusammenhängende Moorgebiet in Mitteleuropa nochmal genauer erkunden. Am 13. Juni 2015 fahre ich mit dem Rad den Moosrundweg entlang. In den feuchten Wiesen rechts und links blüht tausendfach das Fleischfarbene Knabenkraut (Dactylorhiza incarnata). Der Morgentau bringt das Violett der Blüten zum Leuchten, dazwischen blühen auch immer wieder kleinere Gruppen des Strohgelben Knabenkrauts (Dactylorhiza ochroleuca). Nach Süden weitet sich der Blick zum Zugspitz-Massiv, wo noch Schnee liegt.
Aber die spannenden Dinge ereignen sich in der Wiese. Denn hier blüht auch das Fuchs'sche Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii) - mit klaren Unterschieden zu Dactylorhiza incarnata: Der Blütenstand ist meist nicht so dicht besetzt, die Tragblätter sind kleiner, die seitlichen Sepalen sind eher waagrecht ausgestreckt als nach oben, und die Lippe ist sehr akzentuiert dreilappig. Schwieriger aber wird es bei Pflanzen, die nicht so eindeutig einer der beiden Arten zuzuordnen sind - hier gibt es ein lebhaftes Hybrid-Geschehen, mit mannigfaltigen Zwischenformen von Dactylorhiza-Arten. Und zu meiner Freude finde ich auch eine Albiflora-Form von Dactylorhiza incarnata - mit weißlicher Grundfärbung und Resten des Farbpigments Anthocyanin deutlich von Dactylorhiza ochroleuca zu unterscheiden. Die weiße Blütenfarbe bringt die charakteristische Blütenform von Dactylorhiza incarnata besonders gut zum Ausdruck.
Im dichten Gras, zwischen Schachtelhalm und den gelben Klappertopf-Blüten (Rhinanthus angustifolius) entdecke ich auch die Sumpf-Stendelwurz (Epipactis palustris), direkt am Weg blüht sie, im oberen Blütenstand noch knospend.
Aber damit nicht genug der Entdeckungen. Als ich mir Zeit lasse, um mit dem Stativ eine Dactylorhiza incarnata zu fotografieren, entdecke ich im Gras auch eine Honigorchis (Herminium monorchis).
Außerdem blüht hier eine einzelne Mücken-Händelwurz (Gymnadenia conopsea). Und schließlich sehe ich auch Traunsteiners Knabenkraut (Dactylorhiza traunsteineri), in einer ganz anderen Erscheinung als die beiden anderen Knabenkräuter, lockerblütig und dunkel, mit schönen ausgeprägten Einzelblüten an kräftigen Tragblättern, gerade erst aufblühend.
Flora in Fülle: Im Moor betrachte ich auch das Schmalblättrige Woillgras (Eriophorum angustifolium), Schwertlilien (Iris sibirica), die Kleine Brunelle (Prunella vulgaris), den Schlangen-Knöterich (Polygonum bistorta), Wiesen-Augentrost (Euphrasia rostkoviana), das Sumpfläusekraut (Pedicularis palustris) und die Feld-Witwenblume (Knautia arvensis).
Blümchensex
In Grafenaschau verweile ich zur Mittagsrast. Danach kommt die Sonne raus, es wird schön warm. Auf den Wiesen tanzen Baumweißlinge (Aporia crataegi). Die Flügel der Weibchen haben eine reduzierte Beschuppung, so dass das Violett der Flockenblume (Centaurea jacea) durchscheint. Auf einer zur Straße hin offenen Waldlichtung wachsen unten, wo es etwas feuchter ist, Dactylorhiza incarnata. Oben, am Waldrand, blühen etliche Dactylorhiza fuchsii - und dazwischen einige hochgewachsene Hybriden von beiden Arten. Außerdem sehe ich auf der besonderen Wiese auch die Grünliche Waldhyazinthe (Platanthera chlorantha) und Epipactis palustris - mit einem Nektar saugenden Insekt.
Dann folge ich dem Köchelweg zum östlichen Rand des Murnauer Mooses. Entlang des Weges blühen Dactylorhiza traunsteineri in großen Gruppen, außerdem Dactylorhiza incarnata und auch die Weiße Waldhyazinthe (Platanthera bifolia). Eine Dactylorhiza fuchsii hat eine besondere, intensiv gefärbte Lippenzeichnung.
Am 14. Juni radle ich nach Uffing, wo am westlichen Ufer des Staffelsees ein ausgedehntes Moorgebiet mit schönen Wiesen beginnt. Oberhalb eines lauschigen Badeplatzes blühen Dactylorhiza incarnata, manche auch in hellem Rosa. Auf dem Weg am See entlang folgen auch Platanthera bifolia, eine knospende Epipactis palustris, Dactylorhiza fuchsii und neben Gymnadenia conopsea auch die Wohlriechende Händelwurz (Gymnadenia odoratissima).
Ich komme schließlich auf eine Wiese mit zahlreichen Gymnadenia conopsea und einigen Dactylorhiza incarnata und beobachte ein Taubenschwänzchen (Macroglossum stellatarum), wie es die Gymnadenia-Blüten mit seinem langen Rüssel absaugt und die Nektartäuschblumen von Dactylorhiza incarnata wissend ignoriert. Etwa fünf Minuten lang begleite ich das Taubenschwänzchen auf seiner Nektarsuche. Wenn es fündig wird, steht es mit 80 Flügelschlägen pro Sekunde in der Luft. Die Schweizer Botanikerin Karin Gross hat untersucht, von welchen Signalen sich das Taubenschwänzchen auf einer Gymnadenia-Wiese leiten lässt - und herausgefunden, dass wahrscheinlich Größe, Anzahl der Blüten und Duft den Ausschlag geben.
Das Taubenschwänzchen nimmt auch Pollinien der Händelwurz mit und betätigt sich so als Bestäuber - ebenso wie dieses Pärchen des Fleckenhörnigen Halsbocks (Paracorymbia maculicornis), das sich zur Fortpflanzung auf einer Dactylorhiza fuchsii niedergelassen hat - ein Käfer trägt aber auch Pollinien der Orchidee.
Der Weg führt mich weiter am Ufer des Staffelsees entlang in Richtung Murnau. Auf einer großen von Wald umsäumten Wiese fallen mir große, besonders kräftige Knabenkräuter auf, mit breiten Blättern und markanten Blattflecken - das müsste das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis) sein. Auch scheint es hier etliche Hybriden mit anderen Arten zu gehen. Ein heftiges Gewitter zieht auf, und ich entschließe mich, nach Murnau zurückzufahren. Aber am nächsten Tag will ich noch einmal hierhin.
Hybridenvielfalt
So erkunde ich am 15. Juni die Wiese am südwestlichen Ufer des Staffelsees ein weiteres Mal, diesmal im Dauerregen. Nun bin ich überzeugt, dass es sich bei den Pflanzen am Wegrand um Dactylorhiza majalis handelt: dicht besetzter Blütenstand, mittelgroße Blüten, lilapurpurn, seitliche Sepalen zurückgeschlagen, dreilappige Lippe mit etwas vorgezogenem Mittellappen, helles Lippenzentrum, klares Schleifenmuster, Sporn leicht abwärts gebogen. gedrehter Fruchtknoten, Tragblätter länger als der Fruchtknoten und dunkelpurpurn überlaufen.
Auf der Waldwiese wachsen etliche Hybriden. Einige fallen bereits dadurch auf, dass sie deutlich größer sind als die eindeutig einer bestimmten Art zuzurechnenden Pflanzen. Neben einer Dactylorhiza incarnata steht eine etwa doppelt so große Pflanze mit gekielten und leicht gefleckten Blättern. Die Blüten haben dreilappige Lippen mit Schleifenmuster, die Seitenlappen sind abwärts gebogen. Ich denke, hier (links) handelt es sich um eine Hybride von Dactylorhiza incarnata mit Dactylorhiza majalis, die auch als Dactylorhiza xaschersoniana beschrieben wurde. Hingegen haben zwei andere Pflanzen (rechts) zwar auch hellere Blüten, diese sind aber breit ausladend. Der Sporn ist am Anfang etwas dicker, dann konisch zulaufend. Die Blätter sind schmal und gekielt. Dies ist wohl eine Hybride von Dactylorhiza fuchsii mit Dactylorhiza majalis, beschrieben als Dactylorhiza xbraunii.
Wiederum ganz andere Blüten hat ein Knabenkraut am Waldrand: Diese sind ebenfalls hellviolett, aber länglich und haben nach unten weggeklappte Seitenlappen. Die Sepalen sind nach vorn gestreckt. Der Sporn ist so lang wie der Fruchtknoten und nach unten gebogen, die Tragblätter sind deutlich länger als der Sporn. Die Blätter sind schmal, gekielt und stark gefleckt. Belege in der veröffentlichten Literatur (Norbert Griebl, Vorkommen und Verbreitung der Gattung Dactylorhiza in Österreich. In: Berichte aus den Arbeitskreisen Heimische Orchideen, Heft 2/2008 sowie Horst Kretzschmar: Systematik, Taxonomie und Nachweis der Hybriden. In: Die Orchideen Deutschlands. Uhlstädt-Kirchhasel 2005) bestätigen die Vermutung, dass dies eine Hybride von Dactylorhiza fuchsii mit Dactylorhiza incarnata ist, beschrieben als Dactylorhiza xkerneriorum.
Im Dauerregen sind die Bedingungen zum Fotografieren nicht so ideal - aber das botanische Geschehen ist hier einfach zu spannend, um darauf Rücksicht zu nehmen. Aber nach zwei Stunden nehme ich dann doch Abschied von diesem besonderen Ort.
Auf Waldwegen radle ich weiter in Richtung Bad Kohlgrub. Auf einer feuchten Bachwiese wachsen Dactylorhiza incarnata, Dactylorhiza majalis und Platanthera bifolia. Hinter Bad Kohlgrub liegt Saulgrub. Dort komme ich am Ortsrand an eine schöne Feuchtwiese mit Dactylorhiza incarnata, Dactylorhiza fuchsii, Gymnadenia conopsea und Epipactis palustris. Mein Tagesziel ist der verwunschene Tiefsee, mitten im Wald gelegen und nur über einen schmalen Pfad zu erreichen.