mit der Bahn nach Tauplitz
Im Corona-Jahr 2020 sind viele Einschränkungen zu beachten, aber im Juli gibt es die Möglichkeit für eine Woche Urlaub und damit für Nigritella-Erkundungen. Da ich nach Möglichkeit auf das Auto verzichten will, entscheide ich mich für die in der Orchideen-Community wohl bekannte Tauplitzalm in der Steiermark. Das Städtchen Tauplitz ist mit der Bahn gut erreichbar.
Nach der Ankunft am 4. Juli bekomme ich ein schönes Zimmer im Hotel Schwaiger. Weil es noch früh am Nachmittag ist, laufe ich aus dem Ort heraus. Sobald die Weiden aufhören und der Wald anfängt, nimmt die Artenvielfalt zu. An einer feuchten Senke blüht das Fuchs'sche Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii). Wie schon einmal in Bayern gesehen, fühlt sich der Fleckenhörnige Halsbock (Paracorymbia maculicornis) auf diesem Knabenkraut wohl.
Bereits am Abblühen ist in etwa 960 Metern Höhe das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis). In einer sich anschließenden Wiese mit Wollgras ist es noch feuchter. Hier wächst auch die Sumpfstendelwurz (Epipactis palustris), die aber noch nicht aufgeblüht ist, ebenso das Fleischfarbene (Dactylorhiza incarnata) und das Lappländische Knabenkraut (Dactylorhiza lapponica). Am Waldrand blüht das Große Zweiblatt (Neottia ovata). Mit auffallend breiten Lippen schmückt auch die Mücken-Händelwurz (Gymnadenia conopsea) die schöne Wiese.
Hinauf auf den Traweng
Am 5. Juli bringt mich die Seilbahn zur Tauplitzalm hinauf.
Unter mir sehe ich die Blütenstände von Gymnadenia conopsea in der Schneise. Auf der Tauplitzalm herrscht viel Betrieb, in etwa 1600 Metern Höhe gibt es etliche Hotels und Restaurants. Ich laufe nach Osten bis zur Grazer Hütte, kurz danach beginnt der Aufstieg zum Traweng - manche sagen auch die Traweng. Es geht steil hinauf, an einer Felswand mit Drahtseil-Sicherung entlang, dann zum Teil über Geröll.
In 1840 Metern Höhe sehe ich das erste Kohlröschen. Es ist purpurrot, hat einen relativ langen Blütenstand und auch eine an der Basis bauchige und eingeschnürte Lippe - das ist das Rote Kohlröschen - Nigritella miniata oder traditionell auch als Nigritella rubra geführt.
Bei Nigritella miniata sind alle geöffnete Blüten gleichfarbig karmin- oder rubinrot, die Tragblätter sind rötlich gerändert. Die Lippe hat eine stark ausgeprägte Taille im unteren Drittel. Die Petalen sind nur wenig schmaler als die Sepalen. Wenige Meter höher blüht ein anderes Kohlröschen, das Zweifarbige Kohlröschen (Nigritella bicolor). Es hat einen Blütenstand, in dem die einzelnen Blüten häufig im unteren Bereich heller sind als oben. Die Sepalen sind ziemlich breit, die Petalen deutlich schmaler als diese.
Nach Wolfram Foelsche (Die Gattung Nigritella im Lichte neuerer genetischer Untersuchungen mit besonderer Berücksichtigung von Nigritella miniata, S. 123) ist Nigritella bicolor auf der Tauplitzalm häufiger als Nigritella miniata. Ausschau halte ich auch nach dem kleinen, halbkugelförmigen Blütenstand von Widders Kohlröschen (Nigritella widderi) mit rosafarbenen Blüten - aber ich finde keine eindeutigen Pflanzen dieser Art.
Kurz unterhalb des Traweng-Gipfels (1981 m) weichen Fels und Geröll einem schönen Hochplateau mit blühenden Wiesen.
Schon von weitem sehe ich ein Kohlröschen mit einer ganz eigenen Farbe, ein rosa leuchtender Blütenfleck. Das ist das Erzherzog-Johann-Kohlröschen (Nigritella archiducis-joannis), benannt nach Erzherzog Johann von Österreich (1782-1859).
Der Blütenstand ist ähnlich wie bei Nigritella widderi halbkugelig. Die Einzelblüten sind relativ groß, die Petalen und sind zur Lippe hin gebogen. Die Art wurde erst 1985 beschrieben, von Herwig Teppner und Erich Klein, anhand von Pflanzen auf dem Traweng. Die Traweng-Wiesen sind somit der locus typicus von Nigritella archiducis-joannis.
Vom Gipfel aus weitet sich der Blick auf den benachbarten Lawinenstein (1965 m), den ich später auch noch anschauen will.
Nach dem glücklichen Abstieg kehre ich in der Grazer Hütte ein. Laura zapft mir ein Weizenbier. Und an der Hüttenwand mahnt ein Schild zum achtsamen Umgang mit der Natur.
Beim Abstieg ins Tal entscheide ich mich für einen schmalen Wanderweg der oberhalb der Hütte am Steirersee beginnt. Begleitet werde ich von vielen Dactylorhiza fuchsii und einer letzten Narzisse (Narcissus poeticus).
Am Grimmingbach
Am 6.7. zieht Regen auf, so dass ich nur eine kleine Runde laufe, zum Grimmingbach und oberhalb davon. Dabei habe ich einen schönen Blick auf den gestern bestiegenen Traweng (links) mit dem benachbarten Sturzhahn (2028 m).
Im Wald schaue ich mir den Wald-Geisbart (Aruncus dioicus) näher an, der zu den Rosengewächsen gehört. Außerdem blühen hier auch gelber Fingerhut (Digitalis grandiflora) und Eisenhut (Aconitum anthora). An Orchideen wachsen im Wald Dactylorhiza fuchsii, Neottia ovata und Neottia nidus-avis.
zum Lawinenstein
Der 7. Juli beginnt nach dem Regen am Vortag etwas frisch. Die Seilbahn bringt mich wieder hinauf auf die Tauplitzalm. Diesmal laufe ich nicht nach Osten, sondern nach Westen und komme bald zu schönen Feuchtwiesen mit ganz unterschiedlichen Knabenkräutern.
Darunter sind Dactylorhiza majalis, Dactylorhiza incarnata und Dactylorhiza lapponica, aber auch vereinzelte Dactylorhiza fuchsii. Und natürlich auch wieder besondere Hybriden. Dactylorhiza incarnata x majalis hat die breiten Blätter von majalis, die hier aber ungefleckt sind. Die großen Blüten sind hellviolett, rundlich und haben ein feines Punktmuster auf der Lippe. Hingegen hat Dactylorhiza fuchsii x majalis stark gefleckte breite Blätter. Die Blüten sind ebenfalls groß und violett, haben aber einen schlanken Sporn und ein markantes Linienmuster auf der Lippe.
Am Hang entdecke ich auch die ersten Kohlröschen, Nigritella bicolor. Dann geht es weiter zum Kraller See, dem am weitesten im Westen gelegenen See der Kette von stillen Bergseen auf der Hochebene der Tauplitzalm.
Auf dem Weg fällt mir eine weiß blühende Mückenhändelwurz (Gymnadenia conopsea) ins Auge - Bestätigung, dass diese Art immer wieder Albiflora-Formen ausbildet.
Auch die sonstige Alpenflora ist atemberaubend schön. Die zarten Blüten der Zwerg-Alpenrose (Rhodothamnus chamaecistus) zeigen, dass dieses Heidekrautgewächs nicht näher mit den anderen Alpenrosen der Gattung Rhododendron verwandt ist.
Eindrucksvoll ist das Stängellose Leimkraut, auch Polsternelke genannt (Silene acaulis), eine Lebenskünstlerin in Höhen ab 1500 Metern: Die Pflanze dringt mit ihrer teilweise mehr als einen Meter langen Wurzel tief in den Kalkfelsen ein, erzeugt mit ihrem gedrungenen Wuchs ein Polster mit eigenem Mikroklima. Die unteren Blätter sterben ab und bilden einen eigenen Humus. Das Pflanzenpolster kann so hundert Jahre alt werden.
Auf dem Lawinenstein bin ich zunächst etwas enttäuscht - keine Nigritellen sind auf den ausgedehnten Gipfelwiesen zu sehen. Vielleicht bin ich in der Höhe zu früh dran? Oder haben die in großer Höhe grasenden Kühe die Orchideen verspeist? So muss ich mich zunächst mit dem großartigen Ausblick begnügen, etwa auf den Grundlsee.
Nach der Rast am Gipfelkreuz erkunde ich die weitere Umgebung und finde im Gras eine Grüne Hohlzunge (Dactylorhiza viridis).
Schließlich gelange ich an einen reizvollen Wacholderhang mit Weißer Höswurz (Pseudorchis albida) und der zu den Rosengewächsen gehörenden Weißen Silberwurz (Dryas octopetala).
Über einer mit Eis bedeckten Mulde entdecke ich dann doch noch ein Kohlröschen. Es steht auf der etwas feuchteren Wiese der Senke und hat ein auffallend kleines, einfarbig rotes Blütenköpfchen. Was mag das für eine Art sein? Am Abend schicke ich Wolfram Foelsche die Fotos, er antwortet schnell: Das ist Nigritella hygrophila, das Feuchtigkeitsliebende Kohlröschen. Die 2011 von Foelsche und Ulrich Heidtke (in: Journal Europäischer Orchideen 43/1, S. 131-160) neu beschriebene Art hat die Merkmale: "relativ klein, kräftig, überwiegend auf feuchtem und kühlem Standort wachsend. Blütenstand klein bis mittelgroß, etwas kürzer bis kaum länger als breit, ... meist einfarbig mittelrot oder dunkel rubinrot".
Zum Schwarzensee
Am letzten Tag meiner Reise ins Tote Gebirge bringt mich die Seilbahn noch einmal auf die Alm hinauf.
Diesmal laufe ich nach Osten, der Sonne entgegen. Am Fuß des Traweng schaue ich mir die Wiesen noch einmal genauer an und studiere die Unterschiede von Nigritella bicolor, die hier tatsächlich am häufigsten ist, und Nigritella miniata. Bei bicolor sind Sepalen und Petalen ausgebreitet, wobei die Petalen nur etwa halb so breit sind wie die Sepalen. Bei der etwas früher aufblühenden Nigritella miniata (oder rubra) sind sie vorgestreckt und etwa gleich breit.
Auch eine einzelne Pseudorchis albida findet sich zwischen den Nigritellen an der Grazer Hütte.
Danach laufe ich den Wanderweg weiter nach Osten entlang, zum Steirersee. Der schmale Pfad führt über das steile Nordufer entlang, immer wieder geht es hoch und runter. Unterwegs fällt mir eine Händelwurz ins Auge, die gerade erst aufblüht - das ist die Wohlriechende Händelwurz (Gymnadenia odoratissima) mit ihrem im Vergleich zu Gymnadenia conopsea kürzeren Sporn.
Schließlich erreiche ich bei strahlendem Sonnenschein den Schwarzensee - Zeit, um die Füße ins Wasser zu legen.
Zum Abschied von der Tauplitzalm unterhalte ich mich mit einem Bergpieper (Anthus spinoletta) im Prachtkleid, der zwischen Kiefern und Kalkfelsen hin und her fliegt. Die Unterscheidung der Nigritella-Arten bietet der Fachwelt viel Stoff für Diskussionen. Zehn Jahre nach der Beschreibung von Nigritella bicolor durch Wolfram Foelsche sind die Unterschiede zu Nigritella miniata oder rubra aber gut zu erkennen. Von der seltenen Nigrotella hygrophila würde ich nach der ersten Begegnung gerne noch weitere Pflanzen sehen.