Ein kleines Orchideenparadies
So nennt Norbert Griebl den 2317 Meter hohen Golzentipp in den Gailtaler Alpen in Osttirol. In einem Beitrag für die Berichte aus den Arbeitskreisen Heimische Orchideen (34/2, 2017, S.123-145) geht er besonders auf die dort beobachteten Gattungshybriden ein. Ich nehme mir eine Woche Zeit, um die Bergwiesen dort zu erkunden und treffe am 6. Juli 2019 mit Bahn und Bus in Obertilliach ein, das etwa 1450 Meter hoch liegt. Weil nach der Ankunft noch etwas Zeit bis zum Abend ist, laufe ich zu den Wiesen oberhalb der Gail. Auf einer kleinen nicht fürs Vieh genutzten Anhöhe blühen Goldrute (Solidago virgaurea) und Feuerlilie (Lilium bulbiferum).
Nach einer gewittrigen Nacht breche ich am nächsten Morgen von meiner Unterkunft auf, dem Peintnerhof bei Gabi Klammer. Ich möchte zu Fuß zum Golzentipp hinauf laufen, um die sich mit zunehmender Höhe verändernde Vegetation zu erleben. An den Waldhängen blühen die Bärtige Glockenblume (Campanula barbata) und das zu den Nelkengewächsen gehörende Nickende Leimkraut (Silene nutans).
Erste Orchidee der Reise ist das Fuchs'sche Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii), an einem feuchten Hang. Wenig später zeigt sich die Pflanze in Massenbeständen. Die meisten stehen kurz vor der Hochblüte. An einer Blüte klettert ein Gartenlaubkäfer (Phyllopertha horticola) herum.
Im weiteren Aufstieg kommen dann Mückenhändelwurz (Gymnadenia conopsea) und Kugelorchis (Traunsteinera globosa) hinzu, später auch die Weiße Waldhyazinthe (Platanthera bifolia). In etwa 1850 Metern Höhe verändert sich die Vegetation. Der Wald wird lichter. Lärchen gesellen sich zu den Fichten. Am Boden blühen das Alpenfettkraut (Pinguicula vulgaris) und Arnika (Arnica montana).
Dann ist auf einmal die Baumgrenze da. Dactylorhiza fuchsii werden weniger, Gymnadenia conopsea werden immer zahlreicher. Auf den wunderschönen Blumenwiesen taucht jetzt auch die Weiße Höswurz oder Weißzunge auf, Pseudorchis albida.
Eine Gymnadenia conopsea fällt mir auf, die verbreiterte Sepalen hat, auch die Lippe ist ungewöhnlich breit gewachsen. Aber Blätter und der lange Sporn sind eindeutig, so dass dies wohl keine Hybride, sondern einfach eine etwas anders gestaltete Varietät der Mücken-Händelwurz ist. Am Golzentipp überwiegt Silikat-Gestein, so dass im engeren Gebiet um den Gipfel keine Gymnadenia odoratissima zu finden sind.
Schließlich erreiche ich an der Bergstation der Seilbahn die Conny-Alm, Zeit für eine Mittagsrast. Nach einer Mittagsrast laufe ich weiter in Richtung Golzentipp-Gipfel. Kurz nach der Alm blühen die ersten Kohlröschen (Nigritella rhellicani). Nach einem Gewitterschauer leuchten sie in der klaren Luft. Die meisten Blütenköpfe sind ziemlich klein, zum Teil erst aufblühend. Einige Pflanzen haben aber auch größere, langgestreckte Blütenköpfe, mitunter auch mit etwas helleren Blüten.
Gymnadenia x Nigritella
Diese drei häufigen Orchideenarten auf den Golzentipp-Wiesen bilden ein Dreieck von Hybridisierungen, von denen die Kreuzung zwischen Gymnadenia conopsea und Nigritella rhellicani am häufigsten ist. Sie wird auch mit dem Hybridnamen xGymnigritella suaveolens bezeichnet, nach der Beschreibung einer Orchis suaveolens durch den französischen Botaniker Dominique Villars (1745-1814) in seiner Histoire des Plantes de Dauphiné (Bd 2, S.38). Ich sehe Gymnadenia conopsea x Nigritella rhellicani zuerst auf den Wiesen bei den Kutteschuppen, wo ich nach der Gipfelbesteigung im heftigen Regenschauer Zuflucht suche. In Farbe, Größe, Blütenform steht die Hybride zwischen ihren beiden Elternpflanzen. Die Lippe ist schräg seitlich gerichtet, nicht nach oben wie bei Nigritella und nicht nach unten wie bei Gymnadenia. Besonders interessant ist die Betrachtung des Sporns bei Hybride und Elternarten.
Zum Abschluss des Tages sehe ich noch die Grüne Hohlzunge (Dactylorhiza viridis) in den Wiesen an den Kutteschuppen. Dann steige ich wieder ins Tal hinab, auf dem gleichen Weg wie hinauf.
Am nächsten Tag fahre ich mit der Seilbahn zur Conny-Alm hinauf. Zuerst schaue ich mir länger die unterhalb der Hütte gelegenen Wiesen mit ihren Massenbeständen von Gymnadenia conopsea an. Den Fahrweg überquere ich zusammen mit einem Hasen. Dann schlage ich einen anderen Pfad Richtung Golzentipp ein, der mich zu einer Hütte mit einem Brunnen führt.
In den feuchten Einschnitten und Senken wächst auch das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis). Die weißen Blütenköpfe des Scheiden-Wollgrases (Eriophorum vaginatum) zeigen schon von weitem die feuchen Stellen an.
Wo der Hang wieder trockener wird, fällt mir eine Farbvarietät von Nigritella rhellicani ins Auge, wie ich sie ähnlich schon in den Dolomiten und im Wallis gesehen habe.
Auf meinen weiteren Wegen blühen Sumpfdotterblume (Caltha palustris), Sonnenröschen (Helianthemum nummularium) und Trollblume (Trollius europaeus). Der Golzentipp-Gipfel ist diesmal weniger sturmumtöst als gestern, so dass ich mir mehr Muße für den Ausblick nehmen kann.
Für den Abstieg wähle ich diesmal einen schmalen Pfad, der über den "Gripp" steil ins Tal zurückführt. Unterwegs komme ich an ausgedehnten Feuchtwiesen vorbei, die ich mir morgen näher anschauen will. Im Wald oberhalb von Obertilliach gilt meine letzte Bewunderung des Tages dem kleinen Moosauge (Moneses uniflora).
Quellmoore
Am 9. Juli liegen Wolken in den Bergen und für den Nachmittag ist Regen angesagt - passendes Wetter für die Erkundung von Feuchtwiesen. Drei Wiesen mit Quellmooren sind es, in einer weitläufigen Senke, die von einem Fahrweg unterbrochen wird, der sich in Serpentinen den Berg hinaufschlängelt und zum gestern hinabgelaufenen Wanderweg Nr. 47 führt. Kalkhaltigen Boden zeigt das schöne Sumpf-Herzblatt (Parnassia palustris) an.
Ein weiterer Kalkanzeiger ist der Deutsche Enzian (Gentiana germanica), der sich mit seinem ästig verzweigtem Stengel deutlich vom Glocken-Enzian (Gentiana acaulis) der kalkarmen Golzentipp-Wiesen unterscheidet.
Die Nähe zu Mooren mag der Baldrian-Scheckenfalter (Melitaea diamina), der am feuchten Morgen noch etwas träge ist.
Am Waldrand wächst verborgen im Gras das Große Zweiblatt (Neottia ovata), davor ist die Wiese mit Wollgras weiß getupft, hier ist es das Schmalblättrige Wollgras (Eriophorum angustifolium) mit drei oder mehr Blütenköpfchen an einem Halm.
An den feuchteren Stellen blühen Dactylorhiza majalis, an den etwas trockeneren Randzonen zum Wald hin Dactylorhiza fuchsii. Und dazwischen ist auch die am häufigsten auftretende Hybride der Gattung Dactylorhiza (W. Eccarius, Die Orchideengattung Dactylorhiza. 2016. S. 591) zu finden. Dactylorhiza fuchsii x majalis wurde als Dactylorhiza xbraunii beschrieben, nach dem Wiener Stadtrat Heinrich Braun (1851-1920), der sie 1879 oder 1880 im Wienerwald zwischen beiden Elternarten entdeckte.
Am nächsten Tag fahre ich ein Stück mit dem Bus ins Gailtal hinab, ins gut 200 Meter tiefer gelegene Untertilliach. In Serpentinen geht es erst eine kleine Straße hinauf nach Kirchberg, dann weiter in den Wald hinein, auf einem Wanderweg zur Kircher Alm. In etwa 1600 Metern Höhe fällt mir eine abgeblühte Pseudorchis albida auf, mit hohem Fruchtansatz - diese Orchidee kann sowohl fremd- (allogam) als auch selbstbestäubt (autogam) werden.
Schließlich erreiche ich die Kircher Almen in gut 2000 Metern Höhe mit wunderschönen Bergwiesen, voll mit Nigritella rhellicani, Pseudorchis albida und Gymnadenia conopsea, vereinzelt auch mit Traunsteinera globosa. Dazwischen im Gras blüht der Frühlingsenzian (Gentiana verna).
Nigritella x Pseudorchis
Am Hang zwischen zwei Hütten fällt mir ein rosafarbenes Kohlröschen auf. Bei näherem Hinschauen erkenne ich, dass dies die Hybride von Pseudorchis albida mit Nigritella rhellicani ist. Die Blätter sind breiter als bei Nigritella, schmal lanzettlich gekielt. Die kräftig rosa gefärbten Blüten haben eine Lippe, die ähnlich dreilappig ist wie bei Pseudorchis albida, die aber wie bei Nigritella nach oben zeigt. Der Sporn ist klein und sackförmig, ähnlich wie bei Pseudorchis albida, aber etwas dünner. Die Hybride trägt auch den Namen xPseuditella micrantha, der auf den österreichischen Botaniker Anton Kerner von Marilaun (1831-1898) zurückgeht. In einem Beitrag über Die hybriden Orchideen von Österreich (In: Verhandlungen der Kaiserlich-Königlichen Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien, 1865. S.227) beschrieb er die Nigritella micrantha, die bisher in einem einzigen Exemplare von Huter auf Bergwiesen der Schleinitz im tirolischen Pusterthale aufgefunden worden sei.
Ich steige noch etwas höher hinauf bis zum 2136 Meter hoch gelegenen "Hals" des Eggenkoffel. Dort öffnet sich der Blick weit zu den Dolomiten.
In den Wiesen blühen neben etlichen Hybriden von Gymnadenia conopsea x Nigritella rhellicani auch etliche weiß blühende Formen von Gymnadenia conopsea.
Schließlich nehme ich Abschied von den Kircher Almen und steige wieder ins Tal hinab. Bei Kirchberg überholt mich ein Auto mit einem Aufkleber der Arbeitskreise Heimische Orchideen (AHO) - am Steuer ist Franz Rotter aus München. Noch größer ist die Überraschung, als er mir sagt, dass auch Harald Baumgartner und Albrecht Knull in Obertilliach sind. So wird der Abend zu einem kleinen AHO-Treffen in Obertilliach. Ich ändere meine Pläne für den nächsten Tag und will noch einmal mit Harald und Albrecht zum Golzentipp hinauf.
Die Seilbahn bringt uns am 11. Juli zur Conny-Alm hinauf. Diesmal gehen wir zusammen weiter östlich in Richtung Golzentipp als bei meinen ersten beiden Erkundungen. Wir betrachten den gelb blühenden Tüpfel-Enzian (Gentiana punctata) und die Alpen-Küchenschelle (Pulsatilla alpina) - der Enzian eher für kalkarme, die Küchenschelle eher für kalkhaltige Alpenböden typisch. Am Golzentipp gibt es wohl vereinzelte Kalkeinlagerungen.
Gymnadenia x Pseudorchis
Unsere Suche gilt aber der seltenen Hybride Gymnadenia conopsea x Pseudorchis alpina. Meine Begleiter haben die genauen Geodaten früherer Funde, so dass wir die Pflanze bald finden. Sie ist leicht zu übersehen, da sie sich zunächst kaum von einer gewöhnlichen Pseudorchis unterscheidet. Aber die Blüte ist größer, die Lippe breiter, und der Sporn länger. Nur in den Sepalen ist ein Hauch von Violett zu erahnen - möglicherweise ist diese Pflanze eine Kreuzung zwischen einer weiß blühenden Händelwurz, also einer Gymnadenia conopsea f. albiflora mit Pseudorchis. Bei den creme-weißblühenden Hybriden vermutet dies auch Norbert Griebl in seinem eingangs zitierten Beitrag (N. Griebl: Die Orchideen-Gattungshybriden des Golzentipps. AHO-Berichte 34(2): 2017. S. 135), im Unterschied zu Hybriden mit einer blassrosa Blütenfarbe.
Diese Hybride wird auch als xPseudadenia schweinfurthii benannt, der österreichische Botaniker Anton Kerner von Marilaun (1831-1898) bezeichnete sie in seinem Beitrag über Die hybriden Orchideen von Österreich (In: Verhandlungen der Kaiserlich-Königlichen Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien, 1865. S.213) als Gymnadenia schweinfurthii, zu Ehren des Botanikers Georg August Schweinfurth (1836-1925), der die Hybride 1863 zusammen mit Christoph Friedrich Hegelmaier (1833-1906) im mährischen Altvatergebirge (Praděd) fand.
In seinem 1865 erschienenen Aufsatz fügte Kerner die schematische Abbildung einer Blüte dieser Hybride ein, die er nach einer Zeichnung Hegelmaiers anfertigte:
Abschied vom Golzentipp
Auf unseren weiteren Erkundungen sehen wir auch hier weitere Hybriden von Nigritella rhellicani mit Pseudorchis albida, darunter eine Pflanze zusammen mit ihren beiden Elternarten. Sie ist so klein, dass hier die Bezeichnung micrantha passend erscheint: Kerner schrieb dazu: Wir wählten für diese Nigritella den Namen N. micrantha, weil sie in der That unter allen Nigritellen das kleinste Ausmass der Blüthentheile zeigt.
Die Wiesen sind voll mit weiteren botanischen Besonderheiten. Dicht an den Boden schmiegt sich das Niedrige Seifenkraut (Saponaria pumila), das zu den Nelkengewächsen gehört und dichte Polster bildet.
Niederwüchsig ist auch das Zweiblütige Sandkraut, ebenfalls ein Nelkengewächs mit anmutig aus der Blüte ragenden Staubblättern.
In den Bergwiesen blühen auch die Alpenazalee (Loiseleuria procumbens) und die Zwergprimel (Primula minima).
Schließlich verabschiede ich mich von Harald und Albrecht, die mit der Seilbahn wieder ins Tal fahren. Ich zögere den Abstieg noch etwas hinaus, bis ich dann doch den schmalen Pfad Richtung Obertilliach einschlage. In der Höhe bilden die Quellen des Lahnbachs ausgedehnte Feuchtwiesen mit vielen Dactylorhiza majalis. In der Höhe blüht auch noch eine besonders große Traunsteinera globosa.
Artenliste
- Dactylorhiza fuchsii
- Dactylorhiza majalis
- Gymnadenia conopsea
- Neottia ovata
- Nigritella rhellicani
- Platanthera bifolia
- Pseudorchis albida
- Traunsteinera globosa