Brunellen
- so nennen die Südtiroler die Orchideen der Gattung Nigritella. Da achten wir gar net drauf, sagt ein Bauer, der auf der Puflatsch-Alm in 2000 Metern Höhe seine Kühe auf die Weide bringt. Für mich aber sind diese Kohlröschen, und vor allem die Farbvarianten von Nigritella rhellicani das Hauptziel meiner Dolomiten-Reise.
Der Zug bringt mich am 6. Juli 2009 nach Bozen. Dort fährt ein Bus nach Seis am Schlern, wo mich die Umlaufbahn auf die Seiser Alm nach Kompatsch bringt. Meine Unterkunft ist das Hotel Schmung, in 1800 Metern Höhe direkt am Fuß der Puflatsch-Hochebene gelegen.
im Blaugras-Horstseggenrasen
Der Nachmittag nach der Ankunft ist noch lang genug, um einen ersten Blick auf die Flora der Umgebung zu werfen. Über eine Weide steige ich direkt zum Puflatsch hinauf, umgeben von der Blütenpracht des Blaugras-Horstseggenrasens mit so typischen Pflanzen wie Sonnenröschen (Helianthemum nummularium), Berg-Hahnenfuß (Ranunculus montanus), der Glänzenden Skabiose (Scabiosa lucida) oder dem allgegenwärtigen Knöllchen-Knöterich (Polygonum viviparum). Besonders hübsch ist die Bärtige Glockenblume (Campanula barbata), das mir ebenso wie das Alpen-Vergissmeinnicht (Myosotis alpestris) im Wald begegnet, ehe ich bei der Puflatsch-Hütte die Höhe erreiche.
Dort ist die erste spannende Entdeckung ein Enzian (Gentiana germanica) ganz in Weiß - neben der violetten Normalform. Das ist doch ein gutes Omen für die Farbvarianten auch bei den Orchideen, wie sie für die Puflatsch-Alm wiederholt in botanischen Fachartikeln notiert wurden, etwa von Jean-Pierre Brütsch in der Zeitschrift "Bauhinia" (14/2000, S. 21-32). Umgeben von Knöterich (Polygonum viviparum) und dem Grannen-Klappertopf (Rhinantus glacialis) finde ich dann auch die erste Nigritella rhellicani sowie die Mücken-Händelwurz (Gymnadenia conopsea) - die beiden Charakterorchideen der Puflatsch-Alm.
Am nächsten Tag ist das Hochplateau ganz in Wolken eingehüllt. In einer feuchten Senke wächst zwischem Schmalblättrigem Wollgras (Eriophorum angustifolium) das Breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis), das den Höhepunkt seiner Blüte bereits überschritten hat.
Die erste Farbvariante des Schwarzen Kohlröschens finde ich auf einer Wiese - die untere Blütenreihe ist hell-, der obere Blütenstand dunkelrot.
Dort entdecke ich auch Pseudorchis albida, auf Deutsch Höswurz oder Weißzüngel, die dritthäufigste Puflatsch-Orchidee. Da die Wolken immer dichter werden und schließlich auch Regen einsetzt, beschieße ich, die weitere Erkundung zu vertagen.
ansatzweise resupiniert
Strahlender Sonnenschein bei klarem Himmel weckt mich am 8. Juli, beste Exkursionsbedingungen. Unterhalb der Hütte, vor der ich am Vortag vergeblich auf ein Ende des Regens gewartet hatte, finde ich nun auch Hybriden: Gymnadenia conopsea x Nigritella rhellicani fallen schon von weitem mit ihrer karminroten Farbe auf - dunkler als Gymnadenia conopsea, aber heller als Nigritella rhellicani.
Die Laubblätter sind etwas breiter als bei Nigritella, der Blütenstand ist mal klein und gedrungen, mal gestreckt. Der Sporn ist etwa so lang wie der Fruchtknoten. Besonders interessant ist aber die Stellung der Lippe bei den einzelnen Blüten. Diese drehen sich beim Aufblühen der Knospe bei den meisten Orchideen nach unten, was als Resupination bezeichnet wird. Diesen Prozess gibt es auch bei Gymnadenia, nicht aber bei Nigritella. Die Hybriden-Blüten stehen in allen Richtungen, häufiger sind sie ansatzweise resupiniert, so dass die Lippe dann in einer 45- oder 315-Grad-Stellung nach oben zeigt.
Nigritella-Farbenspiele
Ein Stückchen weiter auf dem Puflatsch-Rundweg steht vor einem mit Alpenrosen (Rhododendron hirsutum) bedecktem Hang eine fast weiße Nigritella rhellicani! Ein kleines bisschen Rot hat sich noch an den Rändern des Lippeneingangs gehalten. Die kleine Pflanze, etwa zwölf Zentimeter hoch, blüht erst auf - in einer Woche schaue ich sie mir nochmal an. Direkt daneben blüht eine hellrote Farbvariante.
Auf dem weiteren Weg kommen noch zwei Enzian-Arten ins botanische Notizbuch: Der Bayerische Enzian (Gentiana bavarica) mit seinen tiefblauen Blüten und der sehr viel größere Tüpfel-Enzian (Gentiana punctata), dessen blassgelbe Blüten mit dunkelroten Punkten übersät sind. Die Wurzeln des Tüpfel-Enzians werden auch für Enzian-Schnaps verwendet, aber dafür ist es noch zu früh am Tag.
Ab und zu komme ich mit Wanderern ins Gespräch - der Weg ist in dem beliebten Touristengebiet jetzt recht bevölkert. Die kleinen Orchideen finden kaum ihre Aufmerksamkeit. Da muss schon der prächtig blühende Türkenbund (Lilium martagon) her, damit auch die Botanik etwas gewürdigt wird. Eindrucksvoll blühen aber auch zwei Arten von Teufelskrallen, in der Schweiz etwas liebevoller als Rapunzel bezeichnet: Die leuchtend blaue Phyteuma orbiculare und Phyteuma betonicifolium mit sehr viel dunkleren Blüten.
auf der Wacholderweide
In der Arnika-Hütte lasse ich mich zur Mittagspause nieder und erkunde danach den Hügel direkt hinter der Hütte, auf dem zwischen Zwergwacholder (Juniperus communis subsp. alpinus) auch Kühe weiden. Die Anhöhe bietet vielfältige Nigritella-Farbenspiele, an denen sich auch immer wieder Hybriden mit Gymnadenia conopsea beteiligen, darunter eine mit 25 Zentimetern besonders große Pflanze. Auch eine ganz weiß blühende Gymnadenia conopsea wächst vor einem Wacholderstrauch.
Noch kleinere Blütenköpfchen als Nigritella haben der Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis) und das allgegenwärtige Katzenpfötchen (Antennaria dioica), das als Säureanzeiger gilt. Sehr reichhaltig ist die Flora auch am äußersten Ende der Puflatsch-Alm, wo Porphyritfelsen den steilen Abhang zum Grödner Tal markieren und sich der Blick auf die Dolomiten-Gipfel vom Sella-Massiv über Langkofel und Plattkofel bis zum Schlern öffnet (zum Verschieben des Panoramas in Foto klicken).
Ausflug ins Grödner Tal
Am 9. Juli laufe ich über den Monte Piz zur Seilbahn nach St. Ulrich im Grödner Tal. Unterwegs geht es durch schöne Bergwiesen mit Gymnadenia conopsea und Nigritella rhellicani - Farbvarianten gibt es hier aber nicht mehr. Die Seilbahn bringt mich 750 Höhenmeter in die Tiefe und von St. Ulrich aus laufe ich auf die andere Seite ins St.-Anna-Tal. Am Café St. Anna steht eine kleine Gruppe der Rosa Kugelorchis (Traunsteinera globosa) am Waldrand, leider schon abbühend, etwas tiefer im Wald wachsen zahlreiche Dactylorhiza fuchsii und einige Waldhyazinthen (Platanthera bifolia), die ebenfalls bereits am Abblühen sind.
Der Weg geht jetzt etwas steiler das enge Tal hinauf, und an einem Wasserfall in 1500 Meter Höhe steht eine wunderschöne Gruppe der Wohlriechenden Händelwurz (Gymnadenia odoratissima) - drei in hellem Violett und eine ganz weiß blühend. In der Nähe blüht die Schwarzviolette Akelei (Aquilegia atrata), etwas weiter auch die Feuerlilie (Lilium bulbiferum).
Die Seilbahn bringt mich wieder in die Höhe, und auf dem Rückweg überquere ich auch den Gipfel des Monte Piz, wo etliche Nigritella rhellicani wachsen - einige Pflanzen blühen etwas heller.
Erkundungen im Moor
Den nächsten Tag lasse ich es ruhiger angehen. Mein Ziel sind die Moore der Seiser Alm, das Große Moos beim Gasthaus Ritsch und das Ladinser Moos. Im Großen Moos dominieren die Kuckucks-Lichtnelke (Silene flos-cuculi) und das Sumpf-Läusekraut (Pedicularis palustris) - beide sind typisch für besonders nährstoffreiche Feuchtgebiete. Das sind keine guten Bedingungen für Orchideen. Das Ladinser Moos ist etwas artenreicher, aber ebenfalls ohne Orchideen. Hier zeigt das Scheiden-Wollgras (Eriophorum vaginatum) an, dass es sich um ein eher saures Moor handelt. Zwischen beiden Mooren geht ein Wanderweg durch einen Wald und reich blühende Wiesen, darunter auch wieder Nigritella rhellicani und Gymnadenia conopsea.
Aufstieg zum Schlern
Am 11. Juli habe ich mir den Aufstieg zum Schlern vorgenommen - das gehört gewissermaßen zu den Hausaufgaben einer Dolomiten-Tour. Auf dem Weg über die Anhöhe von Spitzhüttl verdienen das Sumpf-Herzblatt (Parnassia palustris) und Scheuchzers Glockenblume (Campanula scheuchzeri) mit seinen nickenden Blütenknospen einen näheren Blick. Hinter der Senke mit mehreren Bächen beginnt der eigentliche Aufstieg. Auf den Weiden stehen der Weiße Germer (Veratrum album) und das Drachenmaul (Horminium pyrenaicum). Am Rand des Lärchen-Fichtenwalds wächst in einem Bacheinschnitt die Grüne Hohlzunge (Dactylorhiza viridis), und ich kann studieren, wie perfekt die Lippe dieser Orchidee für den bestäubenden Weichkäfer (Cantharis cryptica) geeignet ist. Der langgegtreckte Käfer passt genau auf die zungenförmige Lippe, von dort aus holt er sich Nektar aus dem sackförmigen Sporn. Mit dieser Sonderstellung steht die Art in der Gattung Dactylorhiza einzigartig da - sie ist denn auch lange in einer eigenen Gattung als Coeloglossum viride geführt worden. Erst molekulargenetische Untersuchungen wiesen die Verwandtschaft mit Dactylorhiza nach.
Am feuchten Bachrand stehen auch die kleinen Dolden der Mehlprimel (Primula farinosa) und das Alpen-Fettblatt (Pinguicula alpina). Diese Pflanze hat hübsche weiße Blüten mit einem gelben Fleck auf der Unterlippe und Blätter mit einer schleimigen Oberfläche: Darin bleiben kleine Fliegen hängen, die durch Enzyme der Pflanze zersetzt werden und so deren Nährstoffversorgung ergänzen - das Alpen-Fettblatt gehört somit zu den insektenfressenden Pflanzen. Am Wegrand wächst auch die hellviolett blühende Alpen-Waldrebe (Clematis alpina), die hier in 1900 Metern Höhe den Rand ihres Verbreitungsgebiets erreicht. An einem steilen Wiesenhang am Rand einer Weide wachsen viele Gymnadenia odoratissima, darunter auch eine Gruppe mit drei weißen Blüten. Inzwischen haben Zirbelkiefern die Fichten und Lärchen abgelöst und dann lasse ich auch die Baumgrenze hinter mir, während sich der Touristensteig zum Schlern in Serpentinen das Dolomit-Massiv hinaufwindet. Auf den Wiesen wachsen vereinzelt Nigritella rhellicani - in 2.250 Metern Höhe sind die Kohlröschen gerade erst am Aufblühen.
Ab etwa 2300 Metern erscheint der purpurn blühende Alpen-Süßklee (Hedysarum hedysaroides) auf den Kalkhängen und kurz vor der auf dem Hochplateau gelegenen Schlern-Hütte wachsen das Edelweiß (Leontopodium alpinum), das Dolomiten-Fingerkraut (Potentilla nitida), Clusius' Enzian (Gentiana clusii) sowie die blauen Polster des Kurzblättrigen Enzians (Gentiana brachyphylla) zwischen den Kalkfelsen.
Bei der Stärkung in der Schlern-Hütte treffe ich Jennifer aus der Pension. Zusammen laufen wir durchs Kalk-Geröll noch ein Stückchen hinauf zum Schlern-Gipfel Monte Pez (2563 m). Dort öffnet sich auch der Ausblick auf die Rosszähne (Denti di Terrarossa), dem nächsten Tagesziel.
Denti di Terrarossa
Über das Ladinser Moos hinaus laufe ich am 12. Juli dem zerklüfteten Massiv entgegen. In etwa 2100 Metern Höhe gibt es herrliche Magerwiesen mit fünf Orchideenarten. Neben Gymnadenia conopsea, Pseudorchis albida, Coeloglossum viride und Nigritella rhellicani sehe ich auch eine weitere Nigritella-Art, die lange mit Nigritella miniata (oder Nigritella rubra) verwechselt und 2010 - ein Jahr nach meiner Dolomiten-Tour - von Wolfram Foelsche als Nigritella bicolor beschrieben wurde - dieses Zweifarbige Kohlröschen vermehrt sich wie das seltenere Rote Kohlröschen apomiktisch: Es kann seine Samen ohne Bestäubung durch Zellverschmelzung bilden. Jean-Pierre Brütsch schreibt dazu: "Alle Nachkommen ... besitzen dasselbe Erbgut und bilden keine Farbabweichungen und auch kaum Hybriden."
Der Aufstieg zur Rosszahnscharte (2499 m) führt durch eine dramatische Felslandschaft, vorbei an Einschnitten, die mit Schnee gefüllt sind. Auf der anderen Seite liegt die Tierser Alp mit einem eindrucksvollen Panorama in Richtung Süden. Dort halte ich Mittagsrast und folge dann dem Höhenweg zum Schlern, der vor allem geologisch interessant ist. Auf Dolomit- und Kalk-Formationen mit kleinen Kristallen im Geröll folgt rötlicher Sandstein, die "Terra rossa". Überall auf der Höhe wächst die "Schlernhexe" der Dolomiten, die Alpen-Grasnelke (Armeria alpina).
Dactylorhiza im feuchten Grund
Artenliste
- Dactylorhiza fuchsii
- Dactylorhiza majalis
- Dactylorhiza traunsteineri
- Dactylorhiza viridis
- Gymnadenia conopsea
- Gymnadenia odoratissima
- Nigritella bicolor
- Nigritella rhellicani
- Platanthera bifolia
- Pseudorchis albida
- Traunsteinera globosa