Zweiter Anlauf
Am 30. April 2009 sind es auf den Tag genau zwei Jahre her, dass wir zum ersten Mal das Atlas-Knabenkraut (Orchis patens) in Ligurien aufspüren wollten, der einzigen Region in Europa, in der diese besondere Orchidee verbreitet ist - der deutsche Name verweist auf das Atlas-Gebirge in Nordafrika, dem Hauptherkunftsgebiet der Art. In Regionen zwischen Ligurien und Nordafrika findet sich die Schwesternart Orchis spitzelii. Beim ersten Versuch, Orchis patens zu erkunden, kamen Klaus und ich ich mit der Bahn aus dem Süden, im Anschluss an unsere Exkursion in Apulien. Wir stiegen in Rapallo aus dem Zug und wanderten einen ganzen Tag lang, am 1. Mai 2007, durch die Umgebung nordöstlich dieser Küstenstadt, ohne fündig zu werden. Immerhin fanden wir damals neben dem Fuchs'schen Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii), dem Provence-Knabenkraut (Orchis provencalis), dem Schwertblättrigen Waldvögelein (Cephalanthera longifolia) und dem Echten Zungenstendel (Serapias lingua) auch die Kleinblättrige Stendelwurz (Epipactis microphylla).
Diesmal nähern wir uns dem Ziel von Norden. Um sechs Uhr früh fahren wir am 30. April im Kanton Aargau mit dem Auto los, um frühzeitig die Südseite der Alpen zu erreichen. Gleich hinterm Gotthard-Tunnel erweisen wir einem besonderen Standort des Holunder-Knabenkrauts (Dactylorhiza sambucina) unsere Reverenz. Zu hunderten brechen die Pflanzen mit ihren hellgrünen Blättern bei Airolo in 1340 Meter Höhe durch den Boden, der noch mit letzten Schneeresten bedeckt ist.
Die Eindrücke von diesem Morgenausflug und ein Kaffee helfen über die lange Weiterfahrt bis Genua hinweg. Als wir nach einer Folge von unzähligen Tunneln in der Nähe von Nervi eine Autobahnraststätte erreichen, ist es noch früh am Nachmittag, genug Zeit für einen ersten Weg ins "Feld". Dem Hinweis eines Schweizer Orchideenfreundes folgend, finden wir den etwas versteckten Einstieg zu einem Pfad, der uns auf einen Hang über dem Autobahntunnel führt. Wir sind plötzlich weit entfernt vom Verkehr in einer Landschaft, die vor vielleicht 50 Jahren einmal kultiviert war und die sich nun die Natur zurückgeholt hat. In einem verfallenen Steinhaus wächst ein Feigenbaum, die Umgebung wird von Thymian und kleinen Eichen geprägt - und vom grandiosen Ausblick aufs Mittelmeer. Als erste mediterrane Orchideen begrüßen uns Serapias lingua und der Pflugschar-Zungenstendel (Serapias vomeracea).
Beim Aufstieg durch immer dichtere Vegetation finden wir auch Dactylorhiza fuchsii, das Männliche (Orchis mascula) und das Provence-Knabenkraut (Orchis provincialis) mit seiner typischen "Schafsschnauze" - die Blütenlippe wirkt so in der Seitenansicht. Cephalanthera longifolia und das Große Zweiblatt (Neottia ovata) ergänzen die Orchideenflora dieser besonderen Landschaft. Nach ein paar Kilometern Weiterfahrt erreichen wir unser Ziel Lavagna.
In alten Olivenhainen
Im Hotel Tirreno, das seine besten Zeiten offenbar hinter sich hat, ruhen wir uns ein Stündchen aus, ehe wir noch etwas tun, um uns die Abend-Pizza zu verdienen. Hinter der kleinen Siedlung San Bernardo, gleich nach einer Autobahn-Unterführung, werfen wir von der kleinen Straße aus einen Blick in einen ehemaligen Olivenhain. Da steht sie, die lang gesuchte Orchis patens mit den offen abstehenden Sepalen, die ihr den Namen gegeben haben. Wunderschön sind bei dieser Orchidee die grünlichen Zentren der Sepalen. Sie blüht hier gerade auf, der Blütenstand hat fünf Blüten und zehn Knospen.
Am oberen Rand der Siedlung führt uns ein Pfad in einen kleinen Bachgrund mit einem terrassenförmig gestuften Wiesengelände, das uns im späten Abendlicht eine grandiose Orchideenfülle präsentiert: Mehr als 30 Orchis patens, darunter eine sehr große Pflanze mit 50 Zentimetern, bei der wir 30 Blüten zählen. Bei einer anderen Pflanze studieren wir den längeren Sporn, was auf einen Hybrid-Einfluss von Orchis mascula hinweist, die hier ebenfalls wächst. Außerdem notieren wir Dactylorhiza fuchsii, das Kleine Knabenkraut (Anacamptis morio) und wieder Serapias lingua. Zum ersten Mal sehe ich den Vernachlässigten Zungenstendel (Serapias neglecta), eine gedrungene Pflanze mit einer breiten, herzförmigen Blütenlippe in hellem Lachsrot. Erst gegen 20.00 Uhr reißen wir uns los von diesem Ort, um den langen Tag beim Essen und einem Rotwein ausklingen zu lassen.
Am nächsten Tag, Maifeiertag, ist die kleine Straße von Lavagna in die Berge weit befahrener als gestern, der Gegenverkehr auf der eigentlich einspurigen Straße regelt sich von allein. Über San Bernardo geht es hinaus in die kleine Ortschaft Santa Giulia, wo wir an der Kirche parken. Über alte Pflastersteingassen gelangen wir in eine Gegend mit Wiesen, Olivenhainen und Weinbergen. Auf einer Wiese stehen dichtgedrängt mehrere tausend Serapias, lingua und neglecta, einige auch mit weißer Lippe. Etwas weiter kommen wir zu einem Hain mit Orchis patens, Anacamptis morio und Dactylorhiza fuchsii. In der Böschung entdeckt Klaus auch eine winzige Neotinea maculata im Gras.
Ligurische Betrachtungen
Am späten Vormittag fahren wir die Straße noch weiter weiter hinauf nach Sorlana. Gleich am Ortseingang halten wir an einem öffentlichen Picknickplatz, wo am Feiertag fleißig gegrillt wird. Auf der anderen Seite aber erstreckt sich ein Kastanienhang, der uns einige Stunden beschäftigen wird. Hier finden wir wieder Orchis patens, Orchis mascula und Orchis provincialis. Auch eine Hybridbildung von mascula und patens können wir studieren, mit einem deutlich längeren Sporn als bei patens und mit einer Lippe wie bei mascula. Die Sepalen haben aber die hübsche Grünfärbung von patens behalten. Pierre Delforge hat die Zwischenform von Orchis patens und Orchis mascula als eine eigene Art mit der Bezeichnung Orchis ligustica beschrieben - für uns nicht zum ersten Mal auf dieser Reise Anlass, um über den Streit der Taxonomen zu spotten, ihre beiden Lager der "Splitter" (das sind die, die immer mehr Arten definieren) und "Lumper" (diese haben einen weiteren Art-Begriff und sehen in morphologischen Abweichungen nur das Zeichen für die Variabilität einer Art). Während wir den steilen Hang weiter studieren, stoßen wir auch auf Anacamptis morio, Dactylorhiza fuchsii, Neottia ovata und Neotinea maculata - darunter auch eine hellblütige Form mit ungefleckten Blättern. Schließlich finden wir auch die ersten Ophrys-Arten in Ligurien: Eine gerade erst knospende Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) und abblühende Spinnen-Ragwurz (Ophrys sphegodes). Als wir noch den benachbarten Wald erkunden, entdecke ich eine weiß blühende Orchis mascula, die ihr violettes Punktmuster behalten hat, umgeben von 15 Pflanzen in der Standardfarbe - neues Anschauungsmaterial für meine Studien bei albiflora.eu. Die kleine Pflanze ist nur zehn Zentimeter groß und hat vier Blüten.
Nach so viel Schauen auf kleinem Raum wollen wir wieder weiter ausholen. Wir wandern am Nachmittag zum Monte Capenardo, der sich bis zu einer Höhe von 693 Metern über Solarno erhebt. Der Wald ist Fuchsii-Land, auch viele Cephalanthera longifolia wachsen hier. Weiter oben stoßen wir dann zunehmend auf Orchis mascula. Auf einem anderen Weg laufen wir ins Tal zurück und kommen noch einmal an einer Serapias-Wiese vorbei. Wieder in Sorlana müssen wir "unserem" Hang noch einmal Tribut zollen. Meinen Abschied von Orchis patens unterbricht Klaus mit einem Ausruf der Überraschung: Er hat ganz dicht am Boden eine Rosette der Herbst-Drehwurz (Spiranthes spiralis) entdeckt - da gibt es also auch im September noch etwas zu blühen.
Artenliste
- Anacamptis morio subsp. morio
- Cephalanthera damasonium
- Cephalanthera longifolia
- Dactylorhiza fuchsii
- Epipactis microphylla
- Neotinea maculata
- Neottia ovata
- Ophrys apifera
- Ophrys sphegodes
- Orchis mascula
- Orchis patens
- Orchis provincialis
- Serapias lingua
- Serapias neglecta
- Serapias vomeracea
- Spiranthes spiralis