Die Orchideenflora in Thüringen gehört zu den eindrucksvollsten der Regionen in Deutschland. Der Führer Orchideen-Wanderungen in Thüringen von Wolfgang Eccarius und Helga Dietrich (EchinoMedia Verlag 2009) führt etliche reizvolle Ziele auf, von denen ich vor allem die Standorte im Saaletal südlich von Jena erkunden will. Zuerst aber steuere ich am 19. Mai 2012 ein weiter westlich gelegenes Gebiet zwischen Gotha und Erfurt an, bei den Burgen Drei Gleichen in der Nähe des Dorfes Mühlberg, wo der Botaniker Hermann Müller (1829-1884) geboren wurde, nach dem Müllers Stendelwurz (Epipactis muelleri) benannt wurde.
Gelber Blütenfühling
Hier soll es einen Standort mit dem Bleichen Knabenkraut (Orchis pallens) geben, der Orchidee des Jahres 2012. Für deren Blüte ist es schon etwas spät, aber dann erfahre ich, dass die Art dort in diesem Jahr gar nicht zu sehen war. Erst bei einem weiteren Besuch Ende April 2015 sind dort die Wiesen voll mit diesen schönen Orchideen.
Vögelein und Hyazinthen
Anfang Mai aber blüht in dem Wald mit Kiefern und Eichen bereits ein schönes Schwertblättriges Waldvögelein (Cephalanthera longifolia), mit dem Fruchtstand vom vergangenen Jahr. Ich wandere vom Röhnberg über den Kaffberg zum Klettenberg, auf dessen Höhenkamm ich in einem Meer von Maiglöckchen (Convallaria majalis) eine Gruppe von vier Waldhyazinthen (Platanthera bifolia) finde - drei Pflanzen noch knospend, eine schon aufblühend. Auch die übrige Flora ist reizvoll, unter anderem mit der Schattenblume (Maianthemum bifolium), der Ästigen Graslilie (Anthericum ramosum) und dem Siebenstern (Trientalis europaea). Auf den offenen Flächen ist der Wiesensalbei (Salvia pratensis) allgegenwärtig.
auf dem Dohlenstein
Am nächsten Tag fahre ich nach Kahla, laufe über die Saale und zum Dohlenstein. Dieser Kalkkegel erhebt sich eindrucksvoll über dem Fluss, dadurch entstanden, dass die geologisch jüngeren Schichten des Muschelkalks in die geologisch älteren des Buntsandsteins einbrachen.
Ein als "Alpenstieg" ausgewiesener Weg führt ins Naturschutzgebiet und an einen Wiesenhang mit Helmknabenkraut (Orchis militaris) und der Bocksriemenzunge (Himantoglossum hircinum). Eine Gruppe überholt mich, die Führerin sagt, vor einem Jahr sei die ganze Wiese voll gewesen mit der Bocksriemenzunge, diesmal sei es wohl im Februar noch zu lange zu kalt und dann zu trocken gewesen. Zu den botanischen Kalkanzeigern gehören neben dem auch hier reichlich blühenden Wiesensalbei (auch einmal mit weißen Blüten) Schwalbenwurz (Vincetoxicum hirundinaria) und Kreuzblume (Polygala comosa). In etwas höherer Lage geht die Wiese in einen Trockenmagerrasen
über. Hier finden sich zwischen den rosa blühenden Esparsetten (Onobrychis viciifolia) und den großen weißen Blüten der Waldanemone (Anemone sylvestris) auch das Bleiche Waldvögelein (Cephalanthera damasonium) und drei Ophrys-Arten: Bereits verblüht ist die Spinnenragwurz (Ophrys sphegodes), in voller Blüte und mit etwa 20 Pflanzen die Fliegenragwurz (Ophrys insectifera) und noch in der Knospe die Bienenragwurz (Ophrys apifera). Ebenfalls noch knospend ist die Mücken-Händelwurz (Gymnadenia conopsea). Vom Dohlenstein aus laufe ich zur benachbarten Leuchtenburg.
Der Tag klingt langsam aus und ich fahre erst nach Süden, dann nach Westen in das beschauliche Tal des Hexengrunds. Mein Ziel ist Kleinkochberg, wo ich von Familie Zimny in der Landpension begrüßt werde und auf der Veranda die Fotos vom Tage sichte.
Am 21. Mai fahre ich nach Leutra. Zwischen dem Dorf und dem Naturschutzgebiet Leutratal und Cospoth zerschneidet 2012 noch die Autobahn das Tal - inzwischen aber werden die Autos dort durch einen Tunnel geführt. Hinter der Autobahn-Unterführung verläuft der Weg zunächst in westlicher Richtung zu einer Wiese mit Himantoglossum hircinum, darunter einer Pflanze mit einem von vielen Käfern frequentierten Blütenstand, sowie mit Helmknabenkraut (Orchis militaris), Purpurknabenkraut (Orchis purpurea) und der Hybride beider Arten:
Hier ist der von den Blütenblättern (Sepalen und seitlichen Petalen) gebildete Helm heller als das Rostbraun von Orchis purpurea. Die Seitenlappen der Lippe sind wie bei militaris eher glatt und nach innen gewölbt, nicht flach und gezackt wie bei purpurea.
In einem kleinen Wäldchen wächst auch das Große Zweiblatt (Neottia ovata). Der Weg führt in einen schönen Buchenmischwald hinein, mit dem Bleichen Waldvögelein (Cephalanthera damasonium), knospender Epipactis muelleri, der Breitblättrigen Stendelwurz (Epipactis helleborine) und der Vogegelnestwurz (Neottia nidus-avis). Zum ersten Mal erlebe ich die Korallenwurz (Corallorhiza trifida), die zwar bereits ihre Fruchtstände entwickelt hat, aber immer noch schön anzuschauen ist.
Etwas weiter in östlicher Richtung öffnet sich der Wald zu einem Trockenhang mit niedrigen Kiefern und Wacholder. Zwischen den hellen Kalksteinen blühen die Fliegenragwurz (Ophrys insectifera), außerdem wächst hier die Braunrote Stendelwurz (Epipactis atrorubens) mit etlichen Pflanzen, die gerade ihre Knospen ausbilden. Dann komme ich wieder auf eine Wiese mit Orchis militaris, Orchis purpurea, der Hybride zwischen beiden, der Grünlichen Waldhyazinthe (Platanthera chlorantha) und der knospenden Mückenhändelwurz (Gymnadenia conopsea). Auf dem Rückweg zur Autobahnunterführung treffe ich ein Wander-Paar aus Dresden, das mir Frauenschuh (Cypripedium calceolus) im Buchenwald zeigt, fünf Pflanzen, vier von ihnen bereits abblühend.
Wieder in Leutra gehe ich an der alten Wehrkirche St. Nikolaus vorbei durch den Ort nach Westen, zu einem Quellmoor mit Wollgras (Eriophorum angustifolium) und dem Breitblättrigen Knabenkraut (Dactylorhiza majalis) - dieses war wohl früher häufiger im Tal der Saale und ihren Nebentälern zu finden, ist nun aber überall im Zuge der Trockenlegung von Feuchtgebieten verschwunden. Hier gibt es die schöne Pflanze noch in etlichen, kräftigen Exemplaren.
Schließlich laufe ich nach einem weiteren Hinweis von Holger Disse aus Jena noch zum Waldrand südlich von Leutra. Auf einer Lichtung blühen dort Orchis militaris und Platanthera bifolia.
Im Frauenschuh-Paradies
Von Kleinkochberg aus wandere ich am 22.Mai. an einem sonnigen Maimorgen zunächst zum Luisenturm, den der Brite James Patrick von Parry im 19. Jahrhundert zu Ehren seiner verstorbenen Ehefrau errichten ließ, die eine Enkelin von Goethes Geliebter Charlotte von Stein war. Von dort aus laufe ich in den oberhalb von Großkochberg gelegenen Wald des Blassenbergs (517 m) und zu der sich anschließenden Wache (525 m). Vorbei an einer Schafweide zur Rechten und einer Obstwiese zur Linken gelange ich an den Anfang eines Weges, der wegen seiner reichen Frauenschuh-Bestände Scharen von Naturliebhabern anzieht. Schon bald sehe ich in einem Buchen-Fichten-Wald die ersten Gruppen der prächtigen Cypripedium calceolus, die hier noch in voller Blüte ist, zusammen mit dem Bleichen Waldvögelein (Cephalanthera damasonium). Etwas weiter den Weg entlang strahlen die Blütenstände des Purpur-Knabenkrauts (Orchis purpurea) in der Sonne. Der Weg führt weiter nach Westen, rechts erstreckt sich zwischen den Buchmischwäldern ein Trockenrasenhang mit den kräftigen Pflanzen von Epipactis atrorubens und wieder Ophrys insectifera. Die Frauenschuh-Horste links und rechts vom Weg werden immer prächtiger und ausgedehnter, insgesamt blühen hier viele hundert Pflanzen.
Die weitere Orchideenflora wird vervollständigt durch Neottia ovata sowie - diese noch nicht blühend - Epipactis muelleri, Epipactis helleborine und Gymnadenia conopsea. Eindrucksvoll aber auch die übrige Flora, darunter Silber- und Gold-Disteln (Carlina acaulis, Carlina vulgaris) sowie im Buchenwald das Grünblütige Wintergrün (Pyrola chlorantha):
Zum Ausklang eines erfüllten Tages laufe ich schließlich nach Großkochberg, zum Renaissance-Wasserschloss, das einst Land- und Sommersitz der Familie von Stein war und so 1775 zum Ort der ersten Begegnung Goethes mit Charlotte von Stein wurde. Nach dem Abendessen im Schlossrestaurant kehre ich über den Luisenturm wieder ins Nachbardorf zurück.
Orchideen an verschlafener Ruine
Am nächsten Tag, dem 23.5., fahre ich ein kleines Stück im Hexengrund nach Osten und lasse das Auto in Rödelwitz stehen. Von dort aus laufe ich zunächst zur Burgruine Schauenforst. Sobald der Weg die Felder hinter sich gelassen hat, gibt es die ersten Orchideen zu bestaunen: Cephalanthera damasonium, Neottia nidus-avis, Corallorhiza trifida und Epipactis helleborine.
Östlich der verschlafenen Ruine breitet sich der Orchideen-Buchenwald dann noch prächtiger aus, auch mit Epipactis muelleri, Orchis purpurea und Platanthera bifolia. Weiter geht es zur Hohen Straße, einem alten Handelsweg nach Orlamünda. Dort passiere ich links eine Gruppe von noch nicht blühenden Roten Waldvögelein (Cephalanthera rubra), später auch eine Platanthera chlorantha.
Vorbei an dem Gehöft Martinsroda laufe ich zum Schockenberg und dann in Richtung eines Talgrunds namens Zelle. Dort wachsen schöne Gruppen von Cypripedium calceolus, die nach einem nächtlichen Regen sehr frisch im Gras stehen. Ein Stück weiter auf dem schmalen Pfad sehe ich einen Frauenschuh mit gelblichen statt braunen Blütenblättern. Im anschließenden Kiefernwald suche ich vergeblich nach Goodyera repens, die hier in den "Orchideen-Wanderungen" genannt wird. Aber Neottia ovata sehe ich und auf dem Rückweg zwischen Hoher Straße und Schauenforst auch noch eine Epipactis atrorubens. Nach dem von vielen Menschen bewanderten Weg bei Großkochberg bin ich auf der langen Wanderung heute keinem einzigen Menschen begegnet.
Am 24. Mai gelange ich über Kahla und Blankenhain nach Rettwitz, um vielleicht doch noch Goodyera repens zu sehen. Vom Dorf Rettwitz aus laufe ich ins Goethetal, vorbei an einem Wacholder-Kiefern-Hang mit Epipactis atrorubens. Dann gelange ich in ein stilles Kiefernwäldchen mit Neottia nidus-avis, Neottia ovata, Orchis purpurea, Epipactis helleborine, Platanthera bifolia und Gymnadenia conopsea. Aber die ganze Zeit halte ich eigentlich nur Ausschau nach Moosflächen unter Kiefern - und endlich sehe ich an einer solchen Stelle auch zwei Pflanzen mit den besonderen Blättern von Goodyera repens:
In der Nachbarschaft blüht das Moosauge (Moneses uniflora). Lange laufe ich durch den ausgedehnten Nadelwald, bis ich schließlich noch an einer hübschen Gruppe von Cypripedium calceolus vorbeikomme. Auf einer Blüte hat sich eine gelbe Krabbenspinne niedergelassen und wartet auf Insekten - perfekte Mimikry einer Räuberin.
Ausflug zum Kriechenden Netzblatt
Um Goodyera repens auch blühend zu sehen, fahre ich am 28. Juli noch einmal nach Rettwitz, diesmal mit dem Fahrrad von Erfurt aus. Auf dem Weg ins Goethetal komme ich an den inzwischen schon verblühten Epipactis atrorubens vorbei. Im Kiefernwald steht das Gras jetzt sehr viel höher als im Mai, und es dauert lange, bis ich etwa am gleichen Ort wie im Mai zwei Blütenstände des Kriechenden Netzblatts finde. Die Kiefern hier wurden früher zur Harzgewinnung genutzt - die Rinden zeigen die charakteristischen Schnitte im Fischgrätenmuster. Etwas weiter südlich wird der Kiefernwald lockerer, und der Boden ist weniger dicht bewachsen. Hier finde ich etwa 50 blühende Goodyera, in ganz unterschiedlichen Phasen, zum Teil auch erst aufblühende Blütenstände. Einmal sehe ich auch eine Wildbiene an einer der winzigen Blüten - für ein Foto bleibt sie nicht lange genug dran. Manchmal stehen die Blütenstängel auch in kleinen Gruppen beieinander - und als Besonderheit finde ich einen Stängel, aus dem zwei Blütenstände herauswachsen. An sonstigen Orchideen sehe ich im Wald noch eine Epipactis helleborine und eine Gymnadenia conopsea - beide jetzt bereits verblüht. Dafür leuchten noch die Bunte Kronwicke (Securigera varia) und das seltene Birngrün (Orthilia secunda) im Wald.
Artenliste
- Cephalanthera damasonium
- Cephalanthera longifolia
- Cephalantera rubra
- Corallorhiza trifida
- Cypripedium calceolus
- Dactylorhiza majalis
- Epipactis atrorubens
- Epipactis helleborine
- Epipactis muelleri
- Goodyera repens
- Gymnadenia conopsea
- Himantoglossum hircinum
- Neottia nidus-avis
- Neottia ovata
- Ophrs apifera
- Ophrys insectifera
- Ophrys sphegodes
- Orchis militaris
- Orchis pallens
- Orchis purpurea
- Platanthera bifolia
- Platanthera chlorantha